/Weich wie ein Seestern

Weich wie ein Seestern

Als das Neonlicht wieder anging, war ich zu einem Seestern geworden. Ich fühlte mich ganz aufgehoben zwischen den dreißig fremden Seeanemonen, Korallen und Tintenfischen in Activewear neben mir.

Seitdem mein Körper nämlich beschlossen hatte, spontan zu altern und mich mit zwei Bandscheibenvorfällen überrascht hat, ehe ich 30 werden konnte, sehe ich mich mit einer neuen Selfcare-Challenge konfrontiert: Sport. Im Idealfall dreimal die Woche, mindestens eine Stunde, und auf jeden Fall mit Schwitzen, hat der Orthopäde gesagt. Und bloß nicht schleifen lassen, denn: „Ihr Bandscheibenvorfall schläft nie. Der wartet auf Sie.“

Mit so einem Rückenproblem ist man plötzlich immer verabredet. Wie machen das andere berufstätige Menschen? Die vielleicht sogar noch Kinder haben on top? Deren Kinder vielleicht zum Gitarrenunterricht müssen und zum Judo? Und die selbst vielleicht Chorprobe haben und Therapie und auch ganz gerne mal schlafen?

Immerhin, dank einer dieser Apps, die das Modern Life hervorgebracht hat, kann ich in ungefähr jedem Sportclub, Fitnesscenter, Boxverein und Tanzstudio der Stadt spontan einchecken und an den wildesten Kursen teilnehmen (Salsa-Workout! Bootcamp! Schwimmen!). So habe ich viele schöne Begegnungen mit anderen Rücken. Nebeneinander auf Matten zu liegen und stupide Bewegungsabläufe zu wiederholen, um geheime Muskelgruppen zu stärken, die einem das ewige Sitzen auf Stühlen erleichtern sollen, bringt einem seine Mitmenschen echt näher. Und was für eine Lektion in Demut, die Einzige im Kurs zu sein, die immer noch null Sit-Ups schafft, während die Senior*innen wie die Schnappmesser zugange sind.

„Tauch mal ab, du kleiner Seestern!“

Neulich, am Ende einer Woche, nach der ich mich elend, unfähig und vom Leben überfordert fühlte, fand ich mich freitagabends in einem Pilates-Kurs wieder, in dem ich noch nie war. Ich hatte mich auf dem Heimweg hineingeschubst und ein hartes Core-Training erwartet, für innere wie äußere Stabilität. Dachte, das könnte vielleicht helfen. Krisenfest dank starker Körpermitte. Aber die Lehrerin, walnusshaarig, langgliedrig und samtstimmig, hatte was anderes mit uns vor.

Ganz. Weich. Sollten wir werden. Weiche Arme, weiche Beine, Wirbelsäule wie eine Perlenkette, fließende Bewegungen machen, die mich fürchten ließen, dass ich mich doch in die Ausdruckstanz-Klasse verirrt hatte. Sibylle, so nenne ich sie hier, wollte, dass wir uns vorstellen, wie wir durch Wasser tauchen und zu Meerestieren unserer Wahl werden. Und ich, die ich dachte, Moment mal, Sibylle, fest soll ich doch sein und stark und groß, brach prompt in Tränen aus in meiner Vorbeuge, als mich ihr Satz „Tauch mal ab, du kleiner Seestern!“ traf. Wenn einen jemand mit einem Meerestier-Namen anspricht an einem Tag, an dem man sich in einen Betonsockel verwandeln wollte – da kann schon mal eine Träne kommen. Oder viele.

Heulen mit geschlossenen Augen

Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu heulen bei ihrem anschließenden Monolog, den sie in ihrer Adidas-Knopfhose zwischen unseren Matten auf und ab schreitend hielt, während wir in einer seitlichen Dehnung immer tiefer auf den Meeresgrund sanken: „Es ist so wichtig, wieder weich zu werden,“ sagte sie. „Man muss immer hart sein da draußen, aber man kann nicht immer nur hart sein. Das ist so schön, weich sein zu können. Sich weich sein zu lassen. Und dann kann man beides sein. Das ist ja das Schöne – die ganze Welt.“

Bringt die wirklich noch eine Liebeserklärung an das Leben in diesen 55 Minuten Pilates unter! In mir ging „Both Sides Now“ von Joni Mitchell an. Ich heulte mit geschlossenen Augen, vor Erleichterung, dass Zähnezusammenbeißen vielleicht doch nicht die einzige Option ist. Natürlich nicht. Sibylle hatte mich daran erinnert. Und nicht nur mich. „Sehr schön, einfach alles kommen lassen“, sagte sie noch.

Ich brauchte lange zum Abtrocknen. Und bevor ich Sibylle danken konnte, war sie schon verschwunden.

Laura Naumann, geboren 1989 in Leipzig, ist Theaterautorin und Performerin. In dieser Kolumne erzählt sie von wärmenden Begegnungen in der manchmal viel zu coolen Stadt.

Teaser Ausgabe10 im Text