Nach einigem Hin und Her hat sich Berlin nun doch entschlossen, wegen der zunehmenden Verbreitung des neuartigen Coronavirus in der Stadt Großveranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern generell zu untersagen. Aber handelt die Stadt damit nun angemessen oder übervorsichtig, zu früh oder zu spät? „Das ist eine schwierige Sache“, sagt der Epidemiologe Gérard Krause vom Braunschweiger Helmholtzzentrum für Infektionsforschung. „Wir haben für all diese Maßnahmen keine harte Evidenz und müssen dennoch Entscheidungen treffen.“ Doch es gibt Erfahrungen, die helfen können.
Doppelt so viele Tote – wegen einer nicht abgesagten Parade
Am 27. September 1918 gingen in Philadelphia 200.000 Menschen zu einer Parade, um die in Europa kämpfenden Soldaten zu unterstützen. Die Warnung von Medizinern, die schon zehn Tage zuvor die ersten Fälle der „Spanischen Grippe“ in der Stadt registriert hatten, schlugen die Verantwortlichen in den Wind.
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72 Stunden später war jedes Bett der 31 Kliniken in Philadelphia mit Influenza-Patienten belegt. Bis zum 5. Oktober starben dort etwa 2600 Menschen an dem Virus. Schulschließungen und Verbote öffentlicher Veranstaltungen, von der Stadt Philadelphia erst am 3. Oktober 2018 verkündet, kamen viel zu spät.
St. Louis hingegen hatte bereits zwei Tage, nachdem der erste Influenza-Fall diagnostiziert wurde, reagiert und „soziale Distanzierungsmaßnahmen“ verhängt. Während sich die eine Stadt also 14 Tage Zeit ließ, handelte die andere schnell – mit dem Ergebnis, dass in St. Louis pro 100.000 Einwohner 347 Menschen starben, während Philadelphia doppelt so viele Opfer (719 pro 100.000 Einwohner) zu beklagen hatte.
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Der Vergleich mit der „Spanischen Grippe“, der Schätzungen zufolge 50 bis 100 Millionen Menschen zum Opfer fielen, mag schon aufgrund der zeitlichen Differenz weit hergeholt erscheinen. Doch es gibt durchaus auffallende Parallelen zur Covid-19-Pandemie. Der Influenza-Stamm H1N1 war damals genau so neu, entsprang genauso einem tierischen Wirt und war vergleichbar tödlich wie es jetzt das Sars-CoV-2-Virus ist. Und obwohl die Gesundheitssysteme zumindest in den Industrienationen heute weit besser ausgestattet sein mögen als 1918, wird es gegen Covid-19 vorerst ebensowenig Medikamente und Impfstoffe geben wie damals gegen H1N1.
Eine große Herausforderung
„Was also derzeit bleibt, um eine Abschwächung zu erreichen, ist freiwillige und angeordnete Quarantäne, das Stoppen von Massenveranstaltungen, das Schließen von Lehreinrichtungen oder Arbeitsplätzen, wo Infektionen identifiziert wurden, und die Isolation von Haushalten und Städten“, beschreibt ein Forscherteam um Roy Anderson vom Londoner Imperial College im Fachblatt „The Lancet“ die Handlungsoptionen. Um die Epidemie zu stoppen, müssten Maßnahmen der „sozialen Distanzierung“ die Verbreitung der Viren um etwa 60 Prozent reduzieren, so die Forscher: „Das ist eine große Herausforderung, aber in China ist es passiert.“
Anderson und Kollegen meinen aber, dass es wohl strengere Maßnahmen braucht. Großveranstaltungen zu meiden reduziere zwar die Wahrscheinlichkeit, dass ein Infizierter auf einen Schlag sehr viele andere Infiziert, so genannte „Super Spreading Events“. Aber diese Maßnahme decke nur einen kleinen Teil der Übertragungswege ab.
Hintergründe über das Coronavirus:
Es werde wohl Maßnahmen wie in China brauchen, um die Verbreitung in der Bevölkerung substanziell zu minimieren. Das Abriegeln ganzer Städte und Regionen sei wirksamer, weil damit auch asymptomatische Überträger weniger Kontakte zu anderen Menschen haben – also Infizierte, die (noch) nicht erkrankt sind und trotzdem bereits infektiös sind. Solche Maßnahmen seien jetzt in Italien verhängt worden und man werde „wertvolle Daten“ gewinnen, wie wirksam sie sind.
Das Verhalten jedes Einzelnen entscheidet über den Verlauf der Pandemie
Es sei aber vor allem das Verhalten jedes Einzelnen, das darüber entscheide, ob sich Covid-19 weiter verbreite, betonen Anderson und Kollegen. Insbesondere in den westlichen Demokratien sei das wahrscheinlich wichtiger als behördliche Anordnungen.
Das gilt auch jenseits von wissenschaftlicher Evidenz. Denn wie immer, wenn es um Verhalten und Interaktionen von Menschen geht, sind die Verhältnisse komplex. Das bedeutet, dass man weder im Einzelfall noch bezüglich einer universell umgesetzten Verordnung auch nur ansatzweise sicher sein kann, ob und wie wirksam etwa das Absagen von Massenveranstaltungen ist.
Man muss auch zusätzlich zu dem, was in wissenschaftlichen Experimenten oder in wissenschaftlicher Begleitung oder rückblickender wissenschaftlicher Beurteilung hinsichtlich solcher Maßnahmen möglich ist, auch über plausible weitere Einflussfaktoren nachdenken.
Welche können das sein? Massenveranstaltungen bedeuten auch, dass viele der teilnehmenden Personen dafür über längere Strecken anreisen. Das kann natürlich auch bedeuten, dass Erreger über diese Strecken zu der Veranstaltung hin transportiert werden – oder eben nach erfolgter Übertragung während der Veranstaltung von dieser weg transportiert und dann am Wohnort der nun neu Infizierten weitergegeben werden können. Dazu kommen Infektionsmöglichkeiten auf dem Weg hin und zurück, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln.
„Nichtwissen ist die wesentliche Konstante“
All diese Faktoren, die zu einer Verbreitung eines Erregers beitragen können, werden weitgehend ausgeschaltet, wenn eine Veranstaltung nicht stattfindet. Ob sie aber einen bedeutsamen Einfluss auf den Verlauf einer Epidemie haben können, ist dann wieder von einigen weiteren Aspekten abhängig. Dazu gehört, wie viele Leute, die an ihr teilgenommen hätten oder indirekt, etwa als Mitpassagiere in Bus und Bahn Kontakt zu Teilnehmern gehabt hätten, bereits infiziert waren – was man nicht wissen kann.
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„Nichtwissen“ bezeichnet der Epidemiologe Gerd Antes, lange Zeit Chef des Deutschen Cochrane Centrums, gar als „die wesentliche Konstante“ der derzeitigen Diskussionen um Maßnahmen zur Eingrenzung der Epidemie, „wie man an der Wahl der Grenze 1000 für die Absage von Veranstaltungen leicht sieht.“ Ohnehin sei „die größte Massenveranstaltung der öffentliche Nahverkehr, den man konsequenterweise einstellen müsste.“ Ein wahrscheinlich nicht unbedeutender Faktor, über den man aber auch nicht viel Konkretes weiß,
ist aber schlicht der psychologische: Die Absage einer Großveranstaltung, auf die sich viele Leute gefreut haben, von der Vereine oder Unternehmen wirtschaftlich profitiert hätten, ist schlicht ein starkes Signal: Diejenigen, die das hier entscheiden, sehen die Lage als ernst an! Das kann dann etwa zur Folge haben, dass nicht nur die enttäuschen Teilnehmer, sondern auch breitere Teile der Bevölkerung die Lage auch ernster nehmen, sich besser informieren und letztlich sich selbst und andere besser schützen.
Konkret: Signalisiert man der Bevölkerung: Eine große Parade zum St. Patricks Day ist okay, dann werden viele abends auch in den Pubs sitzen und sich bierselig in den Armen liegen oder Kopf an Kopf, Mund an Mund, über Gott und die Welt diskutieren. Wird die Parade und damit ein kulturell bedeutsames Ereignis abgesagt, wie jetzt etwa in der irischsten Stadt der USA, in Boston, geschehen, werden viele das auch als Warnung verstehen: Jede Art engen Beisammenseins, ob mit Fremden oder Freunden, kann derzeit ungünstige Konsequenzen haben.
Konsequent kontra Keim
Letztlich können viele Interventionen angedacht oder auch umgesetzt werden, von Schließungen von Gemeinschaftseinrichtungen und Theatern über Desinfektion in öffentlichen Verkehrsmitteln bis hin zum Aussetzen fundamentaler kultureller Praktiken wie des Händeschüttelns. All das hat aber nur indirekte Wirkungen auf den essenziellen infektiologischen Kern: die Infektion, die Übertragung von Keinem von einer Person auf die andere.
Im Zentrum jeder Epidemie steht letztlich das einzelne Individuum: Wenn es ihm gelingt, sich selbst und andere in optimaler Weise vor der Übertragung der Keime zu bewahren, dann werden schlicht keine Keime übertragen. So einfach ist es letztlich.
Verwaltung, Arbeitgeber, Anbieter öffentlicher Dienstleitungen, Handelsunternehmen und viele andere müssen im Falle einer Epidemie schlicht die Maßnahmen ergreifen, die es der und dem Einzelnen ermöglichen, sich und andere gut vor einer Übertragung zu schützen. Der und die Einzelne muss seiner- und ihrerseits das Mögliche unternehmen. Man wird nie 100 Prozent erreichen, aber die Übertragungsrate auf weniger als eine Person pro bereits infizierter Person reduzieren, ist möglich. Wenn das nachhaltig gelingt, ebbt die Epidemie ab.
Dass derzeit etwa in China die Zahlen der Neuerkrankungen und auch bereits die Zahl der Todesfälle offenbar deutlich sinken, ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass breiteste Teile der Bevölkerung irgendwann angefangen haben, sich und andere so konsequent wie nur möglich vor Keimübertragung zu schützen. Seitens der Politik und der Verwaltung wurde dafür ein entsprechender Rahmen geschaffen. Das ginge auch in Deutschland. Auch in Berlin. Derzeit sind wir davon aber noch weit entfernt.