In Wolfsburg spitzt sich die Coronavirus-Situation immer weiter zu. Nach Angaben der Stadt sind bereits 17 Bewohner des Hanns-Lilje-Heims für alte und demente Menschen an einer Infektion mit dem neuartigen Virus gestorben.
Ein Wolfsburger Anwalt hat nun Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen den Betreiber des Heims, die Wolfsburger Diakonie gestellt.
Am Sonntag hat zudem das Klinikum Wolfsburg angekündigt, vorerst keine weiteren Patienten mehr aufzunehmen. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Situation in Wolfsburg.
Wie viele Menschen sind infiziert?
Insgesamt sind nach Angaben der Stadt 145 Menschen positiv auf das Coronavirus getestet worden, allein 74 davon sind Bewohner des Hanns-Lilje-Heims. Das Heim hat um die 165 Bewohner. In der niedersächsischen Stadt Wolfsburg leben etwa 125.000 Menschen.
Warum ist Anzeige gegen die Diakonie Wolfsburg gestellt worden?
Wie die Staatsanwaltschaft Braunschweig bestätigte, hat ein Wolfsburger Rechtanwalt Anzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen die Diakonie gestellt.
Mehreren Medienberichten zufolge erhebt der Rechtsanwalt schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen der Diakonie. Die hygienischen Zustände seien mangelhaft, Schutzmaßnahmen seien erst zu spät getroffen worden. Er berufe sich dabei auf Mitarbeiter der Diakonie. Wie der Evangelische Pressedient (epd) berichtet, will die Staatsanwaltschaft zunächst Zeugen befragen.
Warum nimmt das Klinikum Wolfsburg keine neuen Patienten auf?
Das Klinikum Wolfsburg hat am Sonntag angekündigt, keine Patienten mehr aufzunehmen. Grund für diese Maßnahme seien mehrere positive Coronavirus-Tests von Mitarbeitern. Patienten sollen auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt werden. Weiterhin sind nach Angaben des Klinikums keine Besuche mehr erlaubt.
Das Klinikpersonal arbeite ab sofort im Vollschutz, also einer Ganzkörper-Schutzausrüstung, pro Zimmer soll nur noch ein Patient liegen. Offen bleiben lediglich die Notaufnahme der Kinderklinik und der Kreißsaal. Weitere Testergebnisse werden am Montagabend erwartet, dann sollen auch weitere Maßnahmen entschieden werden.
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Wie reagiert die Stadt Wolfsburg auf die Situation im Pflegeheim?
Für das kirchliche Heim mit oft hochgradig dementen Menschen sei die Lage extrem schwierig, sagte Wolfsburgs Oberbürgermeister Klaus Mohrs (SPD) am Wochenende. „Wir stehen aber erst am Anfang der Entwicklung. Das wird für uns alle noch eine sehr, sehr harte Zeit.“.
„Es tut uns unendlich leid, und wir versuchen alles, um die anderen Menschen noch zu schützen“, sagte Mohrs. Alle Heimbewohner seien mit einem Abstrich getestet worden. Bei negativem Ergebnis werde der Test alle drei Tage wiederholt. In den kommenden Wochen sollen die Infizierten und die negativ Getesteten auf unterschiedlichen Stockwerken leben.
Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:
Mohrs kündigte umfassende Hygienemaßnahmen für die Pflegeeinrichtung an. Schleusen sollen verhindern, dass Menschen aus den getrennten Bereichen aufeinander treffen. Kurzzeitig sei darüber nachgedacht worden, ein Wolfsburger Hotel für die Pflegepatienten umzurüsten. Vorerst werde dies aber nicht umgesetzt.
„Gerade die Arbeit mit an Demenz erkrankten Bewohner ist für die Mitarbeiter eines Pflegeheims eine besondere Herausforderung. Bei diesem Krankheitsbild sind die Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen besonders schwer zu gewährleisten“, erklärte Friedrich Habermann, Leiter des Gesundheitsamtes Wolfsburg, in einer Mitteilung der Stadt.
Auf die Strafanzeige gegen die Diakonie reagierte die Stadt Wolfsburg mit Überraschung. Es gebe keine Beanstandungen des Gesundheitsamtes, heißt es in einer Pressemitteilung. Am 13. März sei frühzeitig ein Besucherstopp erlassen und umfassende Schutzmaßnahmen eingeleitet worden. Man werde transparent mit den ermittelnden Behörden zusammenarbeiten.
Vorwürfe von mangelnder Hygiene im Heim wies die Stadt in der Mittelung zurück. „Das Wichtigste für uns ist weiterhin die beste Versorgung für unsere Bewohner und der möglichst umfassende Schutz für unsere Mitarbeitenden“, heißt es in der Mitteilung.
Wie reagiert die Heimleitung auf den Corona-Ausbruch?
„Es ist eine besondere Herausforderung in der Arbeit mit demenziell veränderten Menschen, bei denen jegliche Form der Veränderung wie Ortswechsel, Menschen in Schutzkleidung oder vermummte Gesichter Irritationen und Ängste auslöst“, sagte Heimleiter Torsten Juch.
„Daher war es aus unserer pflegefachlichen Sicht die beste Alternative, innerhalb des Hauses getrennte Bereiche einzurichten und nach Abwägung aller Argumente den Verbleib aller Bewohner bestmöglich zu organisieren“, sagte Juch. „Eine Evakuierung hätte eine Verschlechterung der Demenzerkrankungen zur Folge gehabt.“
Wie äußert sich die Diakonie zum Ausbruch und zur Anzeige?
Wie genau das Virus in das Haus gelangte, sei noch nicht abschließend geklärt, sagte Sprecherin Bettina Enßlen von der Wolfsburger Diakonie dem epd. Die demenzkranken Bewohnerinnen und Bewohner verstünden die Abstandsregeln nicht. „Sie haben einen großen Bewegungsdrang“, sagte Enßlen. „Man kann ihnen nicht erklären, warum sie auf ihren Zimmern bleiben sollen.“
Das Pflegeheim habe schon seit langem seine Türen für Besucher geschlossen, noch bevor das staatliche Betretungsverbot angeordnet worden sei. Umso bitterer sei es, dass jetzt diese Todesfällen aufträten, sagte Enßlen.
Hans-Joachim Lenke, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Niedersachsen, äußerte sich in einer Mitteilung vom Montag „überrascht und betroffen“ über die Anzeige. In der Begehung des Gesundheitsamtes am Sonntag seien keine Mengel festgestellt worden. „Natürlich muss den Vorwürfen nachgegangen werden“ , heißt es in dem Statement. Man gehe davon aus, dass die Diakonie Wolfsburg mit der Staatsanwaltschaft kooperieren werde.
Lenke betont, dass er größten Respekt vor den Mitarbeitenden im Heim habe: „Unser Mitgefühl gilt den Mitarbeitern, den Bewohnern sowie deren Angehörigen. Wir trauern um die Verstorbenen.“
Wie reagiert die Politik auf die Situation?
Das Land Niedersachsen hat nach dem Tod mehrerer mit dem Coronavirus infizierter Pflegebedürftiger in Wolfsburg einen Aufnahmestopp für Pflegeheime angeordnet. Ausnahmen gebe es nur, wenn eine 14-tägige Quarantäne für neue Bewohner gewährleistet sei, sagte Gesundheitsministerin Carola Reimann am Montag in Hannover.
Die SPD-Politikerin appellierte zudem an Angehörige, auf Besuche älterer Angehöriger zu verzichten. „Bitte besuchen Sie Ihre Lieben nicht. Damit schützen Sie nicht nur Ihre eigene Mutter oder Ihren eigenen Vater, sondern alle.“ Es gebe viele Hinweise, dass die Besuchsverbote für Alters- und Pflegeheime nicht beachtet worden seien.
Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hat sich bestürzt gezeigt über die hohe Zahl von Todesfällen in dem Wolfsburger Pflegeheim. „Wir alle blicken mit Anteilnahme und großer Sorge nach Wolfsburg“, sagte Weil am Samstag. Er sprach von einer dramatischen Entwicklung.
„Das Geschehen in Wolfsburg führt uns die Unerbittlichkeit dieses Virus vor Augen“, sagte Weil. „Mein besonderer Dank gilt all denen, die in dem Heim versuchen, trotz eigener Gefährdung weitere Ansteckungen und weitere Todesopfer zu verhindern.“
Gibt es ähnliche Fälle in der Region und in Deutschland?
Ja, ein weiteres niedersächsisches Pflegeheim kämpft mit Infektionen. Tests hätten bestätigt, dass 23 Bewohnerinnen und Bewohner sowie 17 Mitarbeiter eines Altenheims in Wildeshausen im Landkreis Oldenburg mit dem Erreger Sars-CoV-2 infiziert seien, teilte der Landkreis mit. Das Gesundheitsamt habe alle 51 Bewohner und 44 Mitarbeiter getestet, nachdem ein 89-Jähriger mit schweren Vorerkrankungen und Coronavirus-Infektion gestorben sei. Bei allen Erkrankten in der Seniorenresidenz seien bislang milde Verläufe festgestellt worden.
Das Ausmaß der Erkrankungen deute darauf hin, dass das Virus nicht erst vor kurzem in das Heim eingeschleppt worden sei, teilte der Landkreis mit. Die infizierten Bewohner bleiben den Angaben zufolge für zwei Wochen in ihren Zimmern und werden von ebenfalls positiv getesteten Mitarbeitern versorgt – strikt getrennt von negativ getesteten Bewohnern, die in Einzelzimmern untergebracht seien und von negativ getesteten Mitarbeitern versorgt würden. Das Gesundheitsamt ermittele die Kontaktpersonen der Infizierten.
„Es ist eine fürchterliche Entwicklung“, sagte Carsten Harings, Landrat des Landkreises Oldenburg. Dies zeige, „auf brutale Weise“, wie wichtig die Beschränkungen wie Betretungsverbot oder auch Kontaktverbote seien.
Auch Alten- und Pflegeheime in anderen Bundesländern werden derzeit von schweren Corona-Infektionswellen erfasst. Die Zahl der Toten im Seniorenheim St. Nikolaus im bayerischen Würzburg erhöhte sich auf 13. Zuletzt starb nach Angaben des Landkreises Würzburg ein 80-jähriger Bewohner, der an schweren Vorerkrankungen litt. Tests unter Patienten und Beschäftigten liefen. Das Heim solle vorerst jedoch nicht evakuiert werden.
In einem weiteren bereits seit Tagen betroffenen Heim in Jessen im Sachsen-Anhalt stieg die Zahl der Infizierten nach Angaben des Landkreises Wittenberg vom Sonntag auf 19 Bewohner, dazu kamen sieben Mitarbeiter. Am Samstag starb demnach ein 76-jähriger Bewohner des Pflegeheims mit Vorerkrankungen an dem neuen Virus.
Wie können Ausbrüche in Pflegeheimen verhindert werden?
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz plädiert dringend für eine Überarbeitung der Schutzkonzepte für die rund 11.700 vollstationären Pflegeheime. Sobald ein Bewohner grippeähnliche Symptome zeige, müssten alle Heimbewohner getestet werden, forderte die in Dortmund ansässige Stiftung mit Blick auf den Fall in Wolfsburg.
„Wird das Coronavirus nachgewiesen, muss das Gesundheitsamt mit der Heimaufsicht das medizinische Management unverzüglich übernehmen“, hieß es in einer Stellungnahme von Stiftungsvorstand Eugen Brysch. (mit dpa, epd, AFP)