Die offiziellen Zahlen sagen: In China haben sich – Stand 30. März – etwas mehr als 80.000 Menschen mit dem Sars-CoV-2-Virus infiziert. Davon starben 3300, etwa vier Prozent.
In Deutschland gab es an diesem Tag etwas mehr als 66.000 Infizierte und knapp über 645 Tote, eine Sterberate von 0,96 Prozent.
Die Diskrepanz ist auffällig und wird darauf zurückgeführt, dass in China viel weniger getestet wurde als in Deutschland – zu wenig, um die wahre Menge an Infizierten zu erkennen.
Neue Zahlen von Forschern aus New York
Ausgehend von der Annahme, dass die Menschen in verschiedenen Ländern eigentlich gleich auf das Virus reagieren und daher ähnliche Sterberaten zustande kommen müssten, kommt eine Forschergruppe um den deutschen Biostatistiker Alexander Lachmann vom Mount Sinai Zentrum für Bioinformatik in New York nun zu neuen Zahlen.
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325.000 Menschen dürften in China infiziert worden sein, schätzen sie. Auch für Deutschland kommen sie auf deutlich höhere Zahlen: Sie vermuten, dass hierzulande aktuell 222.000 Menschen infiziert sind – also dreimal so viele wie derzeit gemeldet. Bis zum Ende des Ausbruchs könnten es gar 377.000 Infizierte sein.
In den USA könnten es 1,4 Millionen Infizierte sein
In Frankreich, wo am 30. März offiziell 45.000 Infizierte gezählt wurden, und den USA, wo etwas mehr als 160.000 Tests positiv ausfielen, könnten in Wirklichkeit sogar jeweils 1,4 Millionen (Anmerkung: bis zum Ende des Ausbruchs 2,4 Millionen) Menschen infiziert sein.
Wirklich wissen kann derzeit niemand, wie viele Menschen sich mit den neuen Coronaviren Sars-CoV-2 seit deren Überspringen auf den Menschen im Dezember angesteckt haben.
Dazu müssten sehr viel mehr Menschen getestet werden, weit mehr noch als etwa in Südkorea, das als eines der Länder gilt, wo die meisten Menschen pro 100.000 Einwohner getestet wurden.
Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:
Sinnvoll wäre es allemal, die Zahl der Infizierten möglichst genau zu kennen – nicht nur für gezielte Quarantäne-Maßnahmen und für eine bessere Abschätzung der Gefährlichkeit des Erregers, der Fallsterblichkeit. Viele Testergebnisse geben auch einen besseren Hinweis, wie viele Menschen in einem Land an Covid-19 erkranken und wie viele Intensivbetten bereitgehalten werden müssen.
Die Test-Ressourcen sind begrenzt
Doch die Test-Ressourcen sind begrenzt. Um dennoch zu einer realistischen Schätzung der Infizierten in Ländern wie China, den USA oder Italien zu kommen, greift Lachmann auf zwei Datensätze zurück.
Zum einen die offiziellen, von der Weltgesundheitsorganisation WHO täglich veröffentlichten Daten über Infizierte, Genesene und Tote in den Ländern. Zum anderen Informationen der WHO darüber, wie viele Menschen bestimmter Altersgruppen dort leben.
Lachmanns Idee ist es nun, sich an der Zahl der an Covid-19 Gestorbenen in einem Land zu orientieren und anhand dessen hochzurechnen, wie viele Infizierte es dort eigentlich dementsprechend geben müsste.
Dabei orientiert sich der Biostatistiker, der an der Universität Aachen studierte, an einem “Benchmark”-Land mit den besten zur Verfügung stehenden Daten: Südkorea.
Aber da das Land eine im Durchschnitt wesentlich jüngere Bevölkerung hat als Italien, berücksichtigt Lachmann einen “Verwundbarkeitsfaktor” – für Italien etwa liegt er bei 1,57, bei 0,69 für China, Deutschland ist mit 1,48 eingestuft.
Der Ausbruch in Südkorea ist weiter fortgeschritten
Außerdem muss der Forscher einberechnen, dass der Ausbruch in Südkorea bereits viel weiter fortgeschritten ist als in Deutschland. “Vorhersagen, wie diese Pandemie ablaufen wird, sind extrem ungenau”, sagt Lachmann. “In Deutschland sind im Moment [Stand Montag Abend] über 645 Todesfälle gemeldet, die sich durchschnittlich vor 23 Tagen infiziert haben.”
Bei einer angenommenen Fallsterberate von 1,5 Prozent, ausgehend von den Daten in Südkorea, ergebe das in Deutschland über 30.000 Fälle Anfang März. Nun könne man schätzen wie viele Infektionen in diesen 23 Tagen hinzugekommen sind. “Für Deutschland bedeutet dies nach den guten Zahlen am Wochenende immer noch über 9000 Tote bei 377.000 Infizierten”, sagt Lachmann.
Spanien „auf dem Zenit der Krise“
Spanien sei jetzt “auf dem Zenit der Krise” und könne am Ende “bis zu 44.000 Tote” bei 2 Millionen Infizierten haben.
Noch haben Lachmanns Kalkulationen nicht den wissenschaftlichen Begutachtungsprozess durchlaufen, die Arbeit ist nur auf einem Preprint-Server, medRxiv, veröffentlicht.
Und die Methode geht von einigen Annahmen aus, etwa dass die Gesundheitssysteme mehr oder weniger ähnlich gut funktionieren, die Unterschiede in der Sterberate in Italien oder Südkorea also nicht auf besonders schlechte oder gute Behandlung in den Kliniken zurückgeht.
Die Methode ist limitiert
Grundvoraussetzung für den Ländervergleich ist auch, dass das Virus in allen Ländern gleich infektiös und tödlich ist, die hohe Sterberate in Italien also nicht auf eine besonders aggressive Variante des Virus zurückzuführen ist, die nur dort vorkommt, sondern in erster Linie auf unzureichende Tests zurückgeht. Hinweise auf wesentlich unterschiedliche Virusvarianten gibt es tatsächlich nicht.
Dennoch warnt Lachmann ausdrücklich: “Diese Methode ist limitiert in ihrer Fähigkeit, die exakte Zahl von Fällen vorherzusagen.” Das liege daran, dass die Todeszahlen, selbst wenn sie wirklich in jedem Land korrekt gemeldet werden, auf Infektionen vor 23 Tagen zurückgehen. In diesem Zeitraum könne sich die exponentielle Wachstumsphase stark verändern, insbesondere, sobald unterschiedliche soziale Distanzierungsmaßnahmen in den Ländern eingeführt werden.
Diskrepanz zwischen Getesteten und tatsächlich Infizierten ist groß
Auch dass die Viren im Verlauf der Epidemie auf immer mehr bereits Genesene, also Immunisierte, treffen, wird nicht einberechnet. Das letzte Wort, wie viele Menschen in Deutschland, Italien, Spanien oder den USA inzwischen infiziert wurden, wird also auch Lachmanns Kalkulation nicht liefern.
Aber sie zeigt einmal mehr: Die Diskrepanz zwischen den per Test erkannten Infizierten und den Menschenmassen, die sich tatsächlich schon angesteckt haben, ist sicher groß.