Herr Haseloff, die Kanzlerin hat angesichts der Lockerungsübungen der Länder in der jüngsten Schaltkonferenz gesagt: „Ich bin kurz davor aufzugeben.“
Die Bemerkung bezog sich lediglich auf den langwierigen Einigungsversuch zu einem Beschlusspunkt. Wir haben aber, auch Dank der Geduld der Kanzlerin, eine einvernehmliche Lösung gefunden.
Aber sie muss schon sehr genervt gewesen sein.
Ja, das mag so gewesen sein, galt aber auch für andere. Aber viereinhalb Stunden Konferenz sind für alle kein Pappenstiel. Es geht um existenzielle Entscheidungen. Da kann schon mal hitzig diskutiert werden. Aber wir in Sachsen-Anhalt respektieren die Notbremse, die Angela Merkel bei den Neuinfektionen eingebaut hat – und werden sogar deutlich darunterbleiben.
Sie meinen die Regelung, dass Beschränkungen wieder verschärft werden, wenn in einem Kreis in sieben Tagen über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner auftreten.
Ja. Aber wir werden da wesentlich vorsichtiger herangehen, als es der Bund verabredet hat. Die genaue Zahl kann variieren, das kann in der Altmark mit 200.000 Einwohnern und kleinen Orten zwischen 80 und 120 Einwohnern anders aussehen als in den großen Städten Halle und Magdeburg. Wir beobachten die Entwicklung ganz genau. Ich halte ein früheres Reagieren bei lokal anwachsenden Infektionszahlen für dringend geboten. Damit gar nicht erst eine zweite Welle entstehen kann.
Aber Sie waren es doch, der mit dem Beschluss, dass sich nun wieder fünf Leute aus fünf Haushalten treffen dürfen, die Lockerungslawine erst losgetreten hat.
Wir haben in Sachsen-Anhalt nichts losgetreten. Wir haben nach bestem Wissen und Gewissen die Rechte wahrgenommen, die uns unser föderales System in Deutschland verfassungsrechtlich garantiert. Bei uns gab es in manchen Landkreisen über viele Tage hinweg nicht eine einzige zusätzliche Infektion. Da können Sie die Beschränkungen irgendwann nicht mehr rechtfertigen.
Und wir wollen nicht in eine Situation wie im Saarland hineinlaufen, wo der Verfassungsgerichtshof die strengen Ausgangsbeschränkungen gekippt hat. Unser Modell fand in der Schaltkonferenz bei den anderen Ministerpräsidenten durchaus auch Zustimmung. Am Ende einigte man sich darauf, dass sich ab jetzt Personen aus zwei Haushalten treffen dürfen. Unsere Regelung bleibt davon unberührt. Und nur mal als kleine Rechenaufgabe: 3,6 Prozent der deutschen Haushalte haben mehr als fünf Personen, da kann einiges zusammenkommen.
Aber warum die Zahl von fünf Personen?
Weil ohne eine Ausweitung der zulässigen Kontaktpersonen die Öffnungen etwa im Sportbereich ja gar nicht möglich sind. Sonst scheitert das direkt an inneren Widersprüchen. Deswegen ist ja die Kanzlerin – über einen etwas anderen Weg – am Ende auch zu einer im Einzelfall sogar weitergehenden Ausweitung der Kontaktmöglichkeiten gekommen.
Nach Ihrem Vorpreschen mit den fünf Personen folgte Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und weitere Länder mit Öffnungsplänen. Da haben Sie durchaus einen Domino-Effekt ausgelöst.
Die Änderungen, die die Länder jetzt auf den Weg bringen, beruhen doch nicht auf einem spontanen Entschluss. Da überschätzen Sie den Einfluss Sachsen-Anhalts. Die Pläne dafür gab es schon länger. Das ist nichts Neues. Wir haben in Sachsen-Anhalt nur festgestellt, dass das, was wir am vergangenen Sonnabend verordnet haben, geboten war. Unsere Grundentscheidungen waren bislang juristisch immer wetterfest.
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Die nächste Lockerungswelle steht aber an: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet will Kinos und Theater in NRW öffnen, Hessen prüft Veranstaltungen mit bis zu 100 Personen. Fällt bald auch das bis 31. August geltende Verbot für Großveranstaltungen?
Wir wissen genau, dass wirkliche Großveranstaltungen besondere Gefahrenherde sind, die die Ausbreitung des Virus geradezu potenzieren. Daher ganz eindeutig: Das Verbot gilt bis 31. August. Egal, wie sich die regionale Situation entwickelt, da sind wir uns alle einig. Im unteren Bereich sind wir alle noch auf der Suche nach geeigneten Definitionen.
Macht jetzt jeder sein Ding?
Legen Sie die Verordnungen mal nebeneinander. Dann merken Sie, dass wir zu 90 Prozent in einem gemeinsamen Korridor unterwegs sind. Aber das Geschehen entwickelt sich eben auch sehr unterschiedlich. Bayern hat immer noch fünf Mal mehr Infizierte als wir je 100.000 Einwohner. Unser Bundesland ist flächenmäßig in etwa so groß wie Hessen, hat aber nur 2,2 Millionen Einwohner.
Wie Mecklenburg-Vorpommern zählen wir zu den dünn besiedelten Ländern. Das sind ganz andere Voraussetzungen. Ich habe große Regionen, da ist noch nie ein Infizierter festgestellt worden. Und im riesigen Altmarkkreis Salzwedel gibt es aktuell drei aktive Infizierte.
Der Druck der Wirtschaft auf Sie und Ihre Kollegen ist enorm. Wurde Ihnen vorgehalten, Sie würden mit den Maßnahmen die Wirtschaft ruinieren?
Die Wirtschaft ist nicht ruiniert. Gleichwohl steht sie vor besonderen Herausforderungen. Wirksame Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus haben natürlich Auswirkungen auch auf die Unternehmen.
Allerdings können wir nicht alle wirtschaftlichen Effekte allein auf behördliche oder politische Eingriffe zurückführen, betrachten wir nur den Zusammenbruch internationaler Lieferketten. Und die Unternehmen, die wir auf Grund der Pandemie schließen mussten, machen nur einen Bruchteil der gesamten Volkswirtschaft aus.
Aber konkret vor Ort fürchten Menschen um Ihre Existenz: Zum Beispiel Gastronomen und Hoteliers in der Lutherstadt Wittenberg, wo wir kürzlich Gespräche führten.
Die Lutherstadt ist ein gutes Stichwort: In genau 15 Kilometer Entfernung von Wittenberg hatten wir mit der Stadt Jessen einen besonderen Hotspot. Dort mussten wir durch den Eintrag von Viren durch drei Urlauber aus Tirol eine ganze Stadt 14 Tage regelrecht abriegeln: Es betraf 8.000 von insgesamt 15.000 Menschen. Wir haben so aber ein Übergreifen auf Wittenberg verhindert. Ich verstehe die Sorgen der Gastronomen und Hoteliers. Aber bestimmte Maßnahmen sind eben einfach notwendig.
Haben Sie manchmal das Gefühl, dass man zu sehr getrieben war von den dramatischen Warnungen der Virologen?
Ganz im Gegenteil. Das sind alles Beratungen, die uns nicht aufgedrängt wurden, sondern die von uns nachgefragt wurden.
Aber als zum Beispiel am 12. März in einem Treffen mit der Kanzlerin die Nachricht von Schulschließungen in Halle platzte, haben Sie sich echauffiert, dass die in Halle getrieben seien vom Virologen Alexander Kekulé, der dort seinen Lehrstuhl hat.
Zu Schulschließungen gab es lange kein einheitliches Bild. Und natürlich bekommen sie als Politiker, der letztlich Entscheidungen zu treffen hat, ganz unterschiedliche Empfehlungen aus verschiedener Richtung. Dann weiß ich, dass ein Virologe natürlich gern umfassende Schließungen vornehmen möchte, weil er die Dinge aus seiner Perspektive betrachtet. Das muss man zu deuten wissen.
Lehrer- und Elternvertreter argumentieren wieder anders und Ökonomen haben auch eine andere Sicht der Dinge. Als Politiker muss man die verschiedenen Interessenlagen einschätzen und dann nach bestem Wissen versuchen, die richtige Entscheidung zu treffen. Das ist uns in Sachsen-Anhalt bislang gelungen.
Deutschland ist bislang, was die Infizierten- und Todeszahlen betrifft, vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Jetzt behaupten die ersten, der Lockdown wäre nicht nötig gewesen. Sind da Bundesregierung und Länder Opfer ihres eigenen Erfolgs?
Deutschland ist genau deshalb am katastrophalen Zustand anderer Länder vorbeigekommen, weil wir zur rechten Zeit, die rechten Entscheidungen getroffen haben. Ich halte es für falsch, zu behaupten, der Lockdown wäre nicht nötig gewesen. Aber natürlich gibt es immer Menschen, die nachher ganz genau wissen, was man vorher hätte besser machen können.
Die AfD versucht aber, den Leuten das Gefühl zu geben, die Regierung handele hier gegen die Interessen der Bevölkerung. Beobachten Sie das auch in Sachsen-Anhalt, dass die AfD sich bemüht, ein Widerstandsgefühl zu schüren?
Ja. Und deshalb ist es auch so wichtig, dass wir uns in der aktuellen Lage am Infektionsgeschehen vor Ort und nicht an einem deutschen Mittelwert orientieren. Wir müssen jeden Tag vor der eigenen Landesverfassung neu begründen, warum wir welche Grundrechte einschränken.
Und weil wir eben weniger Infektionen haben als anderswo, sind die Öffnungen notwendig. Denn wenn sonst Gerichte feststellen, dass die Grundrechtseinschränkungen nicht mehr verhältnismäßig sind, ist das Wasser auf die Mühlen der Populisten. Ich werde politisch alles dafür tun, das zu verhindern.
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Tickt da der Osten auch in gewisser Weise anders, ist man da empfindlicher für die Einschränkung von Grundrechten?
Die Menschen bei uns denken schon sehr rational und nüchtern. Was mit Fakten begründbar ist, ist gut vermittelbar. Ich brauchte für den Mund-Nasen-Schutz keinen extra Bußgeldkatalog. Die Leute haben das zu 95 Prozent eingehalten. Aber schwierig wird es, wenn man Einschränkungen nicht mehr erklären kann. Deshalb muss es bei zurückgehenden Infektionszahlen auch Lockerungen geben.
Sind wir an einem Kipppunkt?
Das hängt auch davon ab, wie wir unsere Schritte kommunizieren. Alles, was wir tun, müssen wir gut erklären. Und gleichzeitig müssen wir klar machen: Die Pandemie ist nicht vorbei. Es gibt da natürlich auch einen Gewöhnungseffekt. Wenn Sie Flugangst haben, so ist diese beim Start groß, nimmt aber ab, wenn sie erst einmal ein paar Stunden in der Luft sind. So ähnlich ist das auch bei einer Pandemie wie dieser.
Wir haben noch kein Medikament, keinen Impfstoff. Wir sind dem Virus ausgeliefert. Nur durch unser Verhalten und den Eingriff in die Infektionsketten sind wir in der Lage eine Situation zu verhindern, wie sie in Italien, Frankreich und anderen Ländern herrschte. Und uns muss immer bewusst bleiben, wie schnell alles wieder auf die andere Seite kippen kann.
Ihre Lehre der Krise?
Das Virus hat uns geerdet und uns gezeigt, was wirklich existenziell im Leben ist. Wir sehen jetzt, welche Berufsgruppen wirklich wichtig für die Gesellschaft sind. Und wir sehen, wo wir nachjustieren müssen. Das betrifft zum Beispiel die Bevorratung mit Schutzausrüstung, das betrifft Autarkie in Hinsicht auf bestimmte medizinische Produkte.
Das betrifft auch den Einsatz moderner Informationstechniken, sprich Tracking-App oder auch eine bessere Vernetzung, vor allem auch international. Ein gemeinsames Europa ist wichtig, aber es geht jetzt auch darum, den Nationalstaat wieder in seiner Notwendigkeit und Wichtigkeit zu erkennen. Denn ohne nationalstaatliche Regelungen wäre das, was wir in Deutschland geschafft haben, nicht möglich gewesen.