/Wen ziehen die Corona-Proteste an?

Wen ziehen die Corona-Proteste an?

Es sind Zahlen, die normalerweise kaum bundesweite Schlagzeilen machen würden: 3000 Demonstranten in München, 1000 in Berlin am Alexanderplatz, 10 000 in Stuttgart. Doch in Zeiten von Abstandsregeln und Mundschutzgebot sorgen Demos gegen die Coronaregeln, wie sie am Wochenende wieder in mehreren deutschen Städten stattfanden, für Aufregung. Nicht nur weil immer wieder Hygieneauflagen verletzt werden und sie ein offensichtliches Infektionsrisiko bergen – sondern auch weil scheinbar normale Bürger gemeinsam mit Extremisten auf die Straße gehen.

Was war los am Wochenende?

Die Bilder aus den Städten wirkten geradeso, als gebe es die Pandemie nicht. Teils dicht gedrängt versammelten sich am Samstag bei strahlender Sonne Tausende, um gegen die Coronamaßnahmen der Bundesregierung zu demonstrieren – obwohl bereits weitgehende Lockerungen beschlossen worden sind. Auf den Stuttgarter Wasen, wo sonst Volksfeste stattfinden, folgten mehrere Tausend dem Aufruf der Initiative „Querdenken“.

In München strömten mindestens 3000 Menschen auf den zentralen Marienplatz, obwohl nur 80 Teilnehmer erlaubt waren. Die Polizei schritt aus „Gründen der Verhältnismäßigkeit“ jedoch nicht ein, wie ein Sprecher der Deutschen Presse-Agentur sagte. Zu Gerangel, Flaschenwürfen auf Polizisten sowie einzelnen Festnahmen kam es hingegen in Berlin. In Frankfurt kamen 500 Menschen zusammen, sprachen sich mit Parolen wie „Legt den Maulkorb ab“ gegen das Tragen eines Mundschutzes aus – und skandierten „Widerstand“.

Wer geht auf die Straße?

Die Demonstranten kommen aus den unterschiedlichsten politischen Ecken. Da sind Rechte, Linke, Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Esoteriker, Bürgerrechtler, Impfgegner und scheinbar ganz normale Bürger, die gemeinsam demonstrieren. Sie alle eint die Ablehnung der Coronaregeln. Die Vernetzung findet über regionale Chatgruppen statt. Oft wird von den Organisatoren der Proteste behauptet, diese seien weder links noch rechts – man demonstriere für die Grundrechte. Teilnehmer beteuern zum Teil, sie wollten mit „rechten Spinnern“ nichts zu tun haben.

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De facto demonstrieren sie aber gemeinsam mit Menschen, die etwa die Taten der Nationalsozialisten verharmlosen, indem sie behaupten, Ausgangsbeschränkungen seien „sozialer Holocaust“. Oder die hinter der Coronakrise eine jüdische Weltverschwörung vermuten. Experten beobachten, dass zunehmend Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretiker bei den Protesten den Ton angeben. In den Chatgruppen würden Weltbilder transportiert, die die Medienlandschaft verteufeln, Politiker als Marionetten darstellen und die Wissenschaft ablehnen.

Wer schürt den Widerstand gegen die Coronaregeln?

Da ist etwa der Starkoch Attila Hildmann, der glaubt, es würden in der Coronakrise Beruhigungsmittel ins Trinkwasser gemischt. Beim Chatdienst Telegram hat er fast 30 000 Abonnenten. Da ist der HNO- Arzt Bodo Schiffmann, Mitgründer der selbsternannten Partei „Widerstand 2020“, der am Revers einen Aluminium-Bommel trägt – um zu zeigen, dass er „anderer Meinung“ ist. Schiffmann behauptet, Corona sei nicht gefährlicher als die Grippe und vergleicht die Maßnahmen mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Und da ist der ehemalige Journalist Ken Jebsen, der meint, Microsoft-Gründer Bill Gates kontrolliere die Weltgesundheitsorganisation, die Medien und die Bundesregierung. Über die Videoplattform Youtube und Chatprogramme wie Telegram verbreiten sie ihre Botschaften.

Polizisten setzen auf der nicht angemeldeten Demonstration auf dem Alexanderplatz Pfefferspray ein.Foto: dpa

Zahlreiche Innenpolitiker warnen vor einer Zunahme von Verschwörungstheorien in Coronazeiten. „Die Vorstellung, dass die Pandemie bewusst herbeigeführt wurde, um das Volk zu kontrollieren, und dahinter Bill Gates oder andere vermeintlich finstere Mächte stecken, reicht bis weit in die Mitte der Gesellschaft“, sagte der Thüringer Innenminister Georg Maier (SPD) dem „Spiegel“. Wenn Menschen Kritik übten, sei das selbstverständlich in Ordnung. Was ihm Sorge bereite, sei der Versuch von Extremisten, die Proteste zu kapern. Ähnlich sieht das Berlins Innensenator Geisel (SPD). Er warnt, Bürger sollten sich nicht vor den Karren von Extremisten spannen lassen.

Welche Rolle spielt die FDP?

Die FDP hat die Kritik an den Anti-Corona-Maßnahmen früh als Thema zu eigenen Profilierung entdeckt. Zwar unterstützten die Liberalen den Lockdown anfangs ausdrücklich, doch zugleich versucht vor allem Parteichef Christian Lindner, mit Forderungen nach schnelleren und weiteren Lockerungen die Bundesregierung vor sich herzutreiben. Für die Freidemokraten ist die Strategie eine Gratwanderung, da sie nicht in den Verdacht geraten will, die Pandemie nicht ernst zu nehmen. Ihre Linie erinnert an die Klimadebatte. Auch hier wollte sich die FDP ausdrücklich nicht mit Leugnern des Klimawandels gemein machen. Zugleich versuchte sie jedoch, sich vom „Öko-Mainstream“ abzusetzen.

In der Pandemie ist nun aber Thüringens FDP-Chef Thomas Kemmerich nach Ansicht seiner Parteifreunde zu weit gegangen. Der ehemalige Ministerpräsident, der im Februar mit Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde, dann aber zurücktrat, nahm am Wochenende in Gera an einer als „Spaziergang“ organisierten Demonstration mit 750 Teilnehmern teil. Die Veranstaltung in der AfD- Hochburg war mit der Unterstützung von Rechtsradikalen organisiert worden. Wie diese Demonstranten war auch Kemmerich ohne Mundschutz zu sehen. Dicht neben anderen Demoteilnehmern spazierte er durch die Stadt.

Interaktive Karte

Der Unmut in seiner Partei ist groß. So forderte die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack Zimmermann Konsequenzen von Kemmerich. „Er sucht offenbar nicht nur physisch die Nähe zur AfD und Verschwörungstheoretikern, sondern teilt offensichtlich auch deren Demokratie zersetzenden Kurs“, sagte Strack-Zimmermann dem Tagesspiegel. „Er täte gut daran die FDP zu verlassen.“ Parteichef Lindner teilte per Twitter mit, dass er „kein Verständnis“ für Kemmerichs Aktion habe.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow bezeichnete Kemmerichs Auftritt in Gera als „sehr irritierend“. Dem Tagesspiegel sagte er: „Eine erkennbare Abgrenzung zu Antisemitismus oder Rechtsextremismus hat es nicht gegeben.“ Kemmerich übte sich am Sonntag in Selbstverteidigung: Dass sich bei dem „Spaziergang“ mit AfD-Leuten und anderen Rechten gemein machen würde, davon habe er im Vorfeld „keine Vorstellung“ gehabt.

Wie mischt die AfD mit?

Die AfD versucht, von den Straßenprotesten zu profitieren. In Gera hatte sie einen Infostand aufgebaut, der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner lief bei den Protesten mit. Für die Rechten ist das Thema dennoch heikel: Einerseits will die AfD sich als Anti-Lockdown-Partei profilieren und den Unmut einiger Bürger in Wählerstimmen umwandeln. Andererseits scheut sie den allzu offensichtlichen Kontakt zu Verschwörungstheoretikern, weil sie fürchtet, das wiederum könne Wählerstimmen kosten. Kontrollieren kann die Parteiführung die Dynamik aber nur schwer. Die offizielle Linie ist, die Corona-Maßnahmen wegen ihrer wirtschaftlichen Folgen zu verdammen und das Narrativ von einer angeblich autoritär agierenden Bundesregierung auszubauen.

Doch zum Teil gehen AfD-Politiker weiter. In Magdeburg meldete sie vor zwei Wochen selbst eine Kundgebung gegen die Coronaregeln an – dort wurden dann von der Bühne herunter Verschwörungstheorien verbreitet. Außerdem versucht die AfD, mit Agitation gegen eine angeblich drohende „Impfpflicht“ im Impfgegner-Milieu Stimmen zu sammeln. Diese sind bei den Protesten zahlreich vertreten.

Ob die AfD und die rechte Szene langfristig profitieren können, hängt maßgeblich davon ab, wie es jetzt weitergeht. Mit zunehmenden Lockerungen entfallen die Gründe für die Demonstrationen – und damit könnte auch die Zweckallianz auf der Straße zerbröseln. Doch die AfD rechnet sich aus, dass eine tiefe, durch Corona verursachte Wirtschaftskrise ihr die Wähler zutreiben – und ihr so aus dem Umfragetief helfen würde.

Wie sieht die Bevölkerung die Situation?

Viele der selbsterklärten „Coronarebellen“ berufen sich bei den Demos in ihren Sprechchören darauf, das Interesse einer breiten Bevölkerung zu vertreten. „Wir sind das Volk“, ist wie bei Pegida auch bei den Coronademos zu hören. Doch ob das tatsächlich zutrifft, ist zu bezweifeln. So steht dem aktuellen ZDF-Politbarometer zufolge eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter dem Krisenmanagement der Bundesregierung. 81 Prozent geben an, die Regierung mache ihr Arbeit eher gut. Nur 13 Prozent sind vom Gegenteil überzeugt. Auch glaubt mit 47 Prozent fast die Hälfte der Deutschen, die jüngsten Lockerungen der Coronamaßnahmen seien zeitlich „gerade richtig“ gekommen. Nur 11 Prozent hätten sich eine frühere Lockerung des Lockdown gewünscht.