Zu Beginn ein tröstlicher Gedanke: Nicht bei jedem, der in diesen Tagen wirre Theorien verbreitet, schreiten Radikalisierung und das Abdriften in Fantasiewelten so brutal voran wie bei Attila Hildmann.
Nachdem der Berliner Kochbuchautor vor wenigen Tagen verkündete, bewaffnet in den Untergrund zu ziehen und dort notfalls eine Armee aufzubauen, spekuliert er nun über Chemtrails, Aliens und groß angelegte Monster-Erweckungsrituale.
Hildmann behauptet, er werde gegenwärtig von Geheimdiensten und Tempelrittern observiert. Und er setzt seine Anhänger über einen bevorstehenden Karrieresprung in Kenntnis: „Ich bin hier bald der neue Staatschef.“ Er sei geboren, um in dieser Zeit das Schlimmste zu verhindern.
Attila Hildmanns Eigendemontage ist schlimm anzusehen, die Kombination aus Selbstüberschätzung und Realitätsverlust dank seines Geltungsdrangs penibel im Internet dokumentiert. Da überrascht nicht, wenn Hildmann gleich den nächsten Unsinn auftischt, zum Beispiel am Samstag den Verdacht, das Berliner Trinkwasser sei vergiftet, um die Bevölkerung ruhig zu stellen.
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Umso mehr irritiert es, wenn man mit einem Mal Verschwörungstheorien von Personen hört, denen man das nie zugetraut hätte: von Verwandten, Bekannten, Nachbarn, Kollegen. Menschen, die man bisher für vernünftige, aufgeklärte Demokraten hielt. Und plötzlich schicken sie über Whatsapp angebliche „Beweise“, wonach ein Coronavirus gar nicht existiere. Dass alle Abstandsregeln bloß Panikmache seien und dahinter ein teuflischer Plan geheimer Mächte stecke.
Was darauf antworten? Ist diesen Menschen, auf einer Eskalationsstufe zwischen eins und Attila Hildmann, noch zu helfen? Und falls ja: Wessen Aufgabe ist es?
Am Anfang der Pandemie explodierte die Nachfrage nach verlässlichen, von etablierten Institutionen geprüften Nachrichten. Die „Tagesschau“ erreichte 17 Millionen Zuschauer, das entsprach einem Marktanteil von fast 60 Prozent.
Doch je länger der Kampf gegen die Pandemie dauerte, je beschwerlicher er schien und in je weitere Ferne sein Ende rückte, desto attraktiver wurden einfache Antworten und klare Schuldige. Eben zum Beispiel: Das Virus existiert gar nicht, alle Sicherheitsregeln sind überflüssig, geheime Mächte stecken dahinter. Das ist nah am Wunsch, eine Hexe zu verbrennen, weil die Ernte schlecht war, oder einen Juden aus der Stadt zu jagen, weil der eh schon immer an allem schuld war.
Attila Hildmann hat sich über „RT“ radikalisiert
Die einfachen Antworten und klaren Schuldigen werden im Netz auf dutzenden Plattformen verkündet. Die Videos der Rechten und Verschwörungsgläubigen sind handwerklich schlecht gemacht, voller Logikfehler, moderiert von dubiosen Gestalten, denen man unter normalen Umständen, in normalen Zeiten, nicht über den Weg trauen würde.
Auch Attila Hildmann, der Kochbuchautor und Staatschef in spe, hat sich so radikalisiert. Noch vor acht Wochen, sagt er, habe er sich „überhaupt nicht für Politik“ interessiert. Doch dann hätten ihn das von Russland finanzierte „RT“ und ähnliche Plattformen „aufgeweckt“.
Bislang gibt es kaum wissenschaftliche Studien darüber, welche Menschen empfänglich für Verschwörungstheorien sind. Klar ist: Männer sind gefährdeter als Frauen. Und es trifft sie vor allem in Lebensphasen, in denen sie sich vor Isolation, der Einengung persönlicher Freiheiten und Kontrollverlust fürchten. Wann also, wenn nicht jetzt?
Die Verlockung ist groß, Verschwörungstheoretiker als „irre“ oder „verrückt“ zu bezeichnen, ihnen eine psychische Störung zu attestieren. Fair ist das nicht. Denn einerseits diffamiert man so die Menschen, die tatsächlich psychisch krank sind, die einen Leidensdruck verspüren und sich auch in größter Not nie so rücksichtslos verhalten würden wie am Samstag die aggressiven Männerhorden auf dem Alexanderplatz. Selbst wenn es unter den Verschwörungsgläubigen tatsächlich einzelne Erkrankte geben sollte, wäre eine Ferndiagnose durch Laien anmaßend.
Wer Schwurbler pathologisiert, übersieht außerdem, dass gerade die Meinungsführer ihren Unsinn sehr gezielt und bewusst verbreiten – und damit Interessen verfolgen. Manche verdienen so ihren Lebensunterhalt, etwa durch Werbeeinnahmen auf Youtube oder das Verkaufen von Büchern. Andere lechzen nach Aufmerksamkeit. Wieder andere wollen einfach ihre rechtsradikalen, antisemitischen Positionen durchsetzen. Unter dem Vorzeichen der Coronakrise verbreiten sie Inhalte, die sie schon seit Jahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit in die Öffentlichkeit tragen.
Verschwörungsgläubige verdienen kein Mitleid, sondern entschiedene Ablehnung.
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Es heißt, man müsse ihre Sorgen ernst nehmen, ihnen auf Augenhöhe begegnen. Doch sie werten jede Diskussionsbereitschaft als Zugeständnis ihres Gegenübers und Anerkennung, ja als Indiz dafür, ihr Unsinn wäre eine akzeptable Position.
„Auf Augenhöhe diskutieren“ bedeutet hier, dass beide Seiten ihre Argumente vortragen und am Ende stolz sind, dass sie wenigstens im Gespräch waren. Das führt zu „false balance“ – einer Fehlannahme, die Außenstehende im schlimmsten Fall glauben lässt, die Wahrheit liege schon „irgendwo in der Mitte“. Das tut sie nicht. In der Frage, ob man Menschen ermorden darf oder lieber nicht, liegt die Wahrheit schließlich auch nicht irgendwo in der Mitte.
An eine Seite wird in der Debatte, wie mit Verschwörungsgläubigen am besten umzugehen ist, praktisch überhaupt nicht gedacht: diejenigen, die sich den ganzen Quatsch anhören müssen. Die Coronakrise belastet alle, jeder hat ein Päckchen zu tragen. Woher kommt die Erwartung, dass Vernünftige dann auch noch Toleranz gegenüber den Unvernünftigen zeigen sollen – und auf eine saudumme Wortmeldung, die in Wahrheit eine Belästigung darstellt, mit Geduld und Feingefühl reagieren?
Es gibt keine moralische Verpflichtung, sich das anzuhören. Es ist erlaubt, Verschwörungsgläubige abzukanzeln, sogar auszulachen, ihnen auch zu entgegnen: „Erzähl das der Parkuhr, Onkel!“ oder „Geh weg, du bist peinlich.“ Meinungsfreiheit bedeutet, dass man fast alles behaupten darf. Es bedeutet nicht, dass sich jemand den Mist anhören muss.
Wie beweisen, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt?
Ohnehin wäre es Zeitverschwendung, einen Verschwörungstheoretiker von der Unsinnigkeit seiner Behauptungen überzeugen zu wollen. Zunächst einmal ist es schlicht unmöglich, den Beweis zu erbringen, dass eine Verschwörung nicht existiert. Man kann ja auch nicht beweisen, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Er könnte sich, theoretisch, tatsächlich irgendwo auf der Welt verstecken. Solange nicht jeder Quadratmeter Erdoberfläche überwacht wird, können wir es nicht hundertprozentig wissen – und selbst dann könnte der Kerl in einer Höhle im Erdinneren oder in den Wolken oder unter einem Unsichtbarkeitsmantel ausharren.
Wir können lediglich eine überwältigende Fülle an Indizien zusammentragen, die zeigen, wie unwahrscheinlich die Existenz des Weihnachtsmanns ist. Dass es ihn nach allem, was wir aus der Menschheitsgeschichte, den Naturwissenschaften, den Gesetzen der Logik und Insiderberichten der Spielzeugindustrie wissen, nicht gibt.
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Ebenso verhält es sich mit Verschwörungstheorien. Man kann versuchen, ihren Verkündern die offensichtlichen Logikfehler, alle Schwächen und Unwahrscheinlichkeiten der Behauptungen aufzuzeigen. Journalisten, die über diese Thematik berichten, lassen sich manchmal dazu hinreißen.
Zuletzt hatte ich das Vergnügen mit Marion K.. Sie schrieb mich an und warf mir Lügen vor. Ich hatte es gewagt, kritisch über Attila Hildmann zu schreiben. Alle Corona-Verschwörungstheorien, die dieser Mann verbreite, seien jedoch wahr und bewiesen. Sollte ich ein Gegenargument haben, könnte ich es ja vorbringen.
Ich stellte ihr die naheliegenden Fragen: Wenn es wirklich diese geheimen, bösen Mächte gäbe, die im Hintergrund seit Jahren an der Errichtung einer Weltdiktatur arbeiten, eine Pandemie inszenieren, um durch Zwangsimpfen sehr viele Menschen zu töten etc… Was für unfähige Amateure müssen diese Mächte bitteschön sein, dass ausgerechnet Typen wie Attila Hildmann und Xavier Naidoo davon erfahren?
Und wenn Angela Merkel im März, wie Verschwörungsgläubige behaupten, gar nicht in Quarantäne ging, sondern von den Mächten des Lichts festgenommen wurde, weil sie Satanistin ist: Warum ist sie inzwischen wieder ganz normal im Politikbetrieb und gibt Pressestatements? Haben sich die Schwurbler da vielleicht geirrt?
Und wenn es wirklich eine weltweite Verschwörung von Satanisten gibt, die alles kontrollieren, nämlich die Regierungen aller Länder, die Universitäten, alle großen Medien etc: Warum sollten diese Satanisten nicht in der Lage sein, die paar Youtube-Kanäle zu sperren und die Videos zu löschen, in denen Xavier Naidoo und Konsorten diese Geheimnisse ausplaudern?
Die Antworten von Marian K. variierten von „Damit habe ich mich nicht beschäftigt“ über „Das stand so im Internet“ bis „Das müssen Sie Bill Gates schon selbst fragen“. Zweifel kamen ihr jedoch keine. Nach einer Woche Mailverkehr fragte sie mich stattdessen, warum ich denn immer noch nicht „aufgewacht“ sei.
Verschwörungstheoretiker sind verdammt gut darin, über Logikfehler hinwegzusehen. Bei ihnen kann Angela Merkel gleichzeitig Jüdin, Roboter und außerirdisches Echsenwesen sein. Alles ist möglich, solange man für das, was man fünf Minuten vorher behauptet hat, keine Verantwortung übernimmt.
Attila Hildmann sagt, er stehe zu jedem seiner Worte – und tut das Gegenteil. Dass er bewaffnet in den Untergrund geht, will er plötzlich nicht mehr behauptet haben, obwohl seine Ankündigung für jeden überprüfbar im Internet nachzulesen ist. Es wäre so einfach, ihn der offensichtlichen Lüge zu überführen. Seine Anhänger tun es nicht, weil sie ihm unbedingt glauben wollen.
Die Stars der Szene sind sich uneins. Vor allem in der Frage, wer von ihnen die Rebellion gegen die Bundesrepublik anführen sollte. So kam es am Samstag auf der Reichstagswiese zum Aufeinandertreffen gleich dreier Möchtegern-Chefs: Deutschlands kommendes Staatsoberhaupt Attila Hildmann stand in Sichtweite zu dem mehrfach verurteilten Reichsbürger und Ex-NPD-Kader Rüdiger Hoffmann sowie zu einem szenebekannten Antisemiten, der laut verkündete, er sei der „Messias“.
Hoffmann warf Hildmann vor, „Kindergarten-Ideologien“ anzuhängen, worauf dieser sich dem Reichsbürger näherte und nach dessen Mikrofon griff. Die Polizei musste dazwischengehen, führte Hildmann runter von der Wiese.
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Ein beliebtes Mittel, sich gegenseitig zu diskreditieren, ist die Äußerung des Verdachts, der jeweils andere sei von den bösen Mächten in die Bewegung eingeschleust worden, um diese zu spalten. Attila Hildmann etwa spekuliert darüber, ob der Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen vielleicht in Wahrheit den Freimaurern zuzurechnen ist. Schließlich trage er oft einen schwarz-weiß-karierten Schal, der erinnere an ein Schachbrettmuster, und das sei bekanntlich in vielen Freimauerlogen zu finden.
Ihre Anhänger stören solche Streits nicht. Sie glauben, alle hätten gleichzeitig recht. Auch hier hilft ihnen die Kernkompetenz des Verschwörungstheoretikers: im Zweifel einfach nicht so genau hinschauen.
Diskutieren ist Zeitverschwendung. Was dagegen hilft, ist Druck. Im Fall von Attila Hildmann haben etliche Supermärkte reagiert und seine Waren ausgelistet. Innerhalb kurzer Zeit hat er sein eigenes Unternehmen ruiniert. Auf seiner Instagram-Seite kann man nachlesen, wie sich alte Fans aus Vor-Corona-Zeiten massenhaft von ihm abwenden. Zu verstehen geben, dass sie mit so einem nichts zu tun haben wollen. Dass er enorm uncool ist. Von Hildmann selbst ist keine Einsicht zu erwarten. Doch es wird Menschen davor bewahren, selbst in diese Fantasiewelten abzudriften.