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Wie Pandemien die Gesellschaft verändern

Grenzen dicht? Rufe nach dem starken Staat? Massenhaft Verschwörungstheorien? Wenn man sich mit Historikern wie Malte Thießen über die Entwicklung der Gesellschaft in der Coronakrise unterhält, dann sagt er zwischendrin gern: „Das ist Standard.“ Oder: „Das passt ins Bild.“ Der Münsteraner Forscher wirkt, als könnte ihn derzeit wenig überraschen. Denn: Eines seiner Spezialgebiete ist die Geschichte der Gesundheit. Und er sieht viele Parallelen zwischen Corona und den Reaktionen auf frühere Pandemien.

Ob Pest, Pocken, Cholera oder HIV: Der Kampf gegen gefährliche Infektionskrankheiten veränderte die Gesellschaft. Wer Medizinhistoriker zu diesen Effekten befragt, kann viel über die Gegenwart lernen. Ihre Erkenntnisse lassen sich in sieben Thesen zusammenfassen.

1. Seuchen sind ein Katalysator

„Eine Pandemie fördert gesellschaftliche Tendenzen offener zu tage – positive wie negative. Es wird verstärkt, was ohnehin vorhanden ist“, sagt der Medizinhistoriker Philipp Osten, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Thießen nennt Seuchen sogar einen Katalysator. Solidarität, Eigeninitiative, auch die Bereitschaft, die Schwächsten der Gesellschaft zu schützen – das seien gute Eigenschaften, die durch die Seuche verstärkt würden, sagt er. Aber es würden eben gleichzeitig negative Stereotype und Vorurteile verstärkt – und die Neigung, das Fremde als Bedrohung zu sehen. „In der Geschichte wurden immer die Randgruppen als Seuchenträger identifiziert, die Armen, die Schmutzigen oder die mit Migrationshintergrund“, sagt er. In der Weimarer Republik und im Dritten Reich habe man Osteuropäer und Juden als Überträger von Fleckfieber und Pocken gesehen. Der HIV-Ausbruch in den 80er Jahren habe zu einer noch stärkeren Diskriminierung von Homosexuellen geführt. Auch während der Corona-Pandemie gab es anfangs eine starke Zunahme rassistischer Anfeindungen und Übergriffe gegen asiatisch aussehende Personen.

2. Zur Bekämpfung der Seuche dehnt der Staat seinen Einfluss aus

Geschlossene Läden, Kontaktbeschränkungen, Reisesperre: In der Coronakrise greift der Staat stark in das Leben der Menschen ein. „Pandemien waren schon immer die Stunde der Exekutive“, sagt der Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven, der das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg leitet. Seit der Pest der Frühen Neuzeit sei der Staat dafür zuständig gewesen, Städte abzuriegeln und Infizierte unter Quarantäne zu stellen. „Häuser mit Krankheitsfällen wurden zugenagelt oder die Infizierten in abgeschlossene Pestspitäler eingewiesen.“

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Auch der Hamburger Medizinhistoriker Philipp Osten sagt: „Eine Pandemie erhöht die Präsenz einer Ordnungsmacht.“ Ostens Ausführungen gehen zurück in die Zeit Ende des 18. Jahrhunderts. Damals breiteten sich die Pocken – eine der gefährlichsten Infektionskrankheiten für den Menschen – wegen der Zunahme des Reiseverkehrs rasant aus. Doch ab 1800 stand ein Impfstoff aus weniger gefährlichen Kuhpocken zur Verfügung. Bayern führte 1807 als erster Staat weltweit die Impfpflicht ein. Und um alle Kinder zu erreichen, hätten Amtsärzte dann die Taufregister der Kirchen in Impflisten überführt, berichtet Osten. Daraus seien die ersten Einwohnermelderegister geworden. Sie waren später von großem Nutzen. „Über die Medizinalverwaltung bekam der Staat Kontrolle über seine Untertanen.“

Forscher Thießen beobachtet zwar, dass es im 20. Jahrhundert zu einer allmählichen Liberalisierung kam – und man bei der Seuchenbekämpfung zunehmend auf Appelle, Freiwilligkeit und Aufklärung setzte. Dennoch sei der Wunsch nach autoritären Maßnahmen nicht verschwunden. So habe man in den 80er Jahren darüber diskutiert, HIV-Infizierte in spezielle Heime einzuweisen. Und in Ungarn, wo schon länger autoritäre Tendenzen zu beobachten seien, sei Corona jetzt für die Regierung ein willkommenes Vehikel, um die Demokratie weiter auszuhöhlen.

3. Pandemien verstärken nationalen Wettbewerb und Abschottung

Weil Seuchen von Mensch zu Mensch übertragen werden, lösten sie laut Thießen in der Vergangenheit oft radikale Abgrenzung aus. Schon während der Pest hätten sich Städte komplett abgeriegelt. Auch in der Coronakrise konnte man eine Abschottung auf nationaler, regionaler und sogar auf lokaler Ebene beobachten. Der Wissenschaftler sieht das als einen Rückschritt. Denn im 20. Jahrhundert habe sich ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass es zur Bekämpfung von Pandemien grenzüberschreitende Kooperation brauche. So habe es die WHO mitten im Kalten Krieg geschafft, die Staaten der Welt hinter dem Ziel der Pockenbekämpfung zu vereinen – und die gefährliche Krankheit so schließlich mit einem globalen Impfprogramm auszurotten.

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Doch auf der Welt gebe es schon seit mehreren Jahren einen Trend zum Nationalismus und Isolationismus. „Auch für diese Entwicklung wirkt die Corona-Pandemie als Katalysator“, sagt Thießen. Jetzt sei ein Wettrennen um die besten Impfstoffe und Medikamente zu beobachten. Das liege auch daran, dass sich die Handlungsfähigkeit moderner Sozialstaaten daran bemesse, wie gut sie in der Lage seien, Gesundheit zu sichern. „Seuchen stellen Sozialstaaten ein Zeugnis aus. Sie sind ein Leistungstest für Regierende – denn Seuchenmanagement ist ein entscheidender Faktor für das Vertrauen in den Staat“, sagt Thießen. In der Pandemie ließen sich nun die Erfolge der Staaten bei der Seuchenbekämpfung unmittelbar vergleichen. Und so kämpfe jede Nation erst mal für sich allein.

4. Seuchen werden oft politisch instrumentalisiert

Thießen sagt, es gebe keine Seuche der Vergangenheit, die nicht politisch genutzt wurde. Ein anschauliches Beispiel seien die Polio-Epidemien in den 50er und 60er Jahren gewesen. Während in der BRD jährlich Tausende Kinder an der Krankheit litten, wurden in der DDR Massenschluckimpfungen durchgeführt, so dass man kaum Probleme mit Kinderlähmung hatte. Während des Mauerbaus bot die DDR Bundeskanzler Konrad Adenauer an, der BRD sofort mit drei Millionen Impfdosen zu helfen – was dieser ablehnte. „Das war natürlich ein Propaganda-Coup – die DDR wollte zeigen, wie gut sie in der Seuchenbekämpfung ist“, sagt Thießen.

5. Pandemien fördern soziale und medizinische Verbesserungen

Großen Einfluss auf die Gesellschaft hatten laut Medizinhistoriker Osten auch die Cholera-Epidemien in den 1830er Jahren. Danach sei etwa die Ausbildung für Mediziner erheblich verbessert worden. Vorher gab es eine Unterteilung in Wundärzte, die als Chirurgen eine Handwerkerlehre am Patienten absolviert hatten. Und die akademischen Mediziner, die an den Universitäten auf Latein unterrichtet wurden, aber in ihrer Ausbildung wenig mit Menschen zu tun hatten. „Das wurde angeglichen. Zudem bekam die Gesunderhaltung der Bevölkerung einen ganz neuen Stellenwert“, sagt Osten.

Thießen sagt zwar, dass es bis heute so sei, dass sich Reiche einer Seuche besser entziehen könnten als arme Menschen. Dennoch sieht auch er die Cholera als einen Wendepunkt: Nach einem schweren Ausbruch in Hamburg etwa habe man erkannt, dass die Kanalisation und das Sanitätswesen verbessert werden mussten. „Es wurde klar, dass es nichts bringt, den Einzelnen zu schützen, sondern dass man die Lebens- und Arbeitsbedingungen aller verbessern muss, wenn man die Gesellschaft gesund halten will“, sagt er.

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Medizinischen Fortschritt brachte auch die Spanische Grippe hervor. Die 1918 beginnende Pandemie forderte zwischen 25 und 50 Millionen Menschenleben. „Die Spanische Grippe hat insbesondere auf dem Gebiet der Virologie sehr innovativ gewirkt“, sagt Leven. Man habe zwar vorher schon Viruskrankheiten wie Pocken und Gelbfieber gekannt. Aber in den 1920er Jahren begann man die Viren selbst eingehend zu untersuchen. „Anfang der 1930er Jahre konnte man mit dem Elektronenmikroskop erstmals Viren sichtbar machen, seit den 1940er Jahren gab es Grippeimpfungen.“

6. Seuchen sorgen für eine Polarisierung in der Gesellschaft

Die einen fürchten sich vor den Lockerungen der Corona-Maßnahmen und dem Anstieg der Neuinfektionen. Die anderen gehen ohne Mundschutz auf die Straße, um gegen diese Lockerungen zu demonstrieren. Was derzeit in Deutschland zu beobachten ist, überrascht den Historiker Thießen nicht. „Seuchen sorgen für eine extreme Polarisierung“, sagt er. „Da wird nur noch in Gegenbegriffen gedacht: Freiheit oder Zwang. Schwarz oder weiß.“ Als historisches Beispiel nennt er die HIV-Pandemie: Da gab es die, die einen liberalen Umgang befürworteten und auf Aufklärung und Freiwilligkeit setzen wollten. Und auf der anderen Seite jene, die sich für Melderegister für Infizierte aussprachen oder sogar Aidskranke in Heimen unterbringen wollten. „Das war eine radikale Zweiteilung und Verschärfung im politischen Diskurs.“ In der Coronakrise komme dazu, dass die Gesellschaft schon vorher enorm polarisiert gewesen sei. „Auch hier wirkt die Seuche wieder als Verstärker.“

7. Seuchen sind ein Nährboden für Verschwörungstheorien

Der Mediziner Harald Salfellner, der sich in einem Buch mit der Spanischen Grippe auseinandergesetzt hat, sagt: „Eine der stärksten Impulse für unser Verhalten ist die Angst.“ Gerade kollektive Ängste seien häufig mit katastrophalen Fehlentwicklungen und Wahnideen gepaart. „Denken Sie an den Hexenwahn in der frühen Neuzeit, der überall dort besonders grassierte, wo die Pest oder auch klimatische Faktoren ängstigen“, sagt er.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass auch Verschwörungstheorien zu Zeiten von Pandemien ins Kraut schießen. „Wenn Menschen das Gefühl haben, keine Kontrolle zu haben, suchen sie Strategien, um damit umzugehen. Eine Strategie ist, auch da Muster zu sehen, wo keine sind“, erklärte die Sozialpsychologin Pia Lamberty kürzlich im Tagesspiegel. Und Pandemien seien ein Paradebeispiel für Kontrollverlust. Man habe beim Zikavirus und bei Aids bereits gesehen, dass in einem solchen Klima Verschwörungstheorien blühten – und noch viel früher in der Geschichte: „Im Mittelalter wurden Juden hinter der Pest vermutet, auch der Nationalsozialismus hat über solche Verschwörungstheorien funktioniert“, erklärte Lamberty. Dem Medizinhistoriker Leven sind sie bei seiner Forschung um die Spanische Grippe untergekommen. „Einzelne US-Zeitungen etwa meldeten, dass die Deutschen mit ihren U-Booten den Keim an der amerikanischen Küste ausgesetzt hätten, wie eine Art Biowaffe.“ Auch in der Coronakrise sind krude Theorien an der Tagesordnung. Für neu hält Thießen aber deren Sichtbarkeit durch die sozialen Medien. „Da bekommen Dinge Aufmerksamkeit, die sich sonst versendet hätten.“

Ausblick – wie geht es weiter?

Die letzte große Gemeinsamkeit, die Thießen bei den Pandemien der Vergangenheit beobachten konnte: „Erstaunlicherweise hatten die Infektionskrankheiten im 20. Jahrhundert sehr wenig Nachhall. Man ging stets schnell wieder zur Tagesordnung über.“ Es habe zwar anfangs sehr besorgte Reaktionen gegeben, aber dann schnell ein Abstumpfungseffekt eingesetzt. „Wenn die Vorsorge greift, sinkt das Problembewusstsein.“

So waren Masern oder Diphtherie bis zur Entwicklung der Impfung sehr bedrohliche Krankheiten. „Aber mittlerweile sind sie aus unserem Problembewusstsein verschwunden. Obwohl man die Krankheit locker ausrotten könnte, tritt sie immer wieder auf, weil manchen die Vorsorge nicht so wichtig erscheint.“ Thießen befürchtet in der Coronakrise einen ähnlichen Effekt: „Das ist das Präventionsparadoxon: Vorsorgemaßnahmen und Impfungen werden meist Opfer ihres eigenen Erfolgs.“