Es ist ein besonderes Zeitdokument, dieser Kommentar in der ersten Ausgabe des Tagesspiegels vom 27. September 1945. Ein wortmächtiges Monument, knapp 11.000 Anschläge, gewissermaßen der erste Leitartikel der neuen Zeitung, der damals auf der dritten Seite der vierseitigen Ausgabe erschien. Die Redaktion saß in den Anfangsjahren im Ullsteinhaus in Berlin-Tempelhof.
Mit seinem Beitrag „Anfang und Zukunft“ markiert der Zeitungsgründer und Publizist Erik Reger die historische Stunde des Neubeginns. Es geht um die große Frage: Wohin führt der Weg für Deutschland aus den Trümmern des Krieges? Der Text ist getragen vom Pathos der so genannten Stunde Null und von der Hoffnung auf eine demokratische Zukunft, die vom Willen nach Frieden, Freiheit und Recht bestimmt ist. Im Folgenden lesen Sie Erik Regers Beitrag „Anfang und Zukunft“ im Wortlaut.
Nahezu die Hälfte des einst voreilig gepriesenen zwanzigsten Jahrhunderts liegt hinter uns. Was immer die andere Hälfte bringen mag, wird Folge dessen sein, was zwischen 1914 und heute geschah. Die für die ganze Welt entscheidende Frage lautet, ob der Beitrag des deutschen Volkes zur zweiten Jahrhunderthälfte ebenso rühmlich sein wird, wie sein Anteil an der Gestaltung der ersten unrühmlich war.
Diese Zeilen würden nicht geschrieben, wenn wir das Gefühl hätten, unser Volk würde nach allem, was vorgefallen ist, der Größe dieser Entscheidung zuletzt doch wieder nicht gewachsen sein. Zwar ist der Ausdruck „Volk der Dichter und Denker“ niemals, auch nicht dem Ursprung nach, so gerechtfertigt gewesen, wie Ruhmredigkeit und Selbstgefälligkeit ihn anzuwenden beliebten. Als er zum ersten Male bei Musäus in der Vorrede zu seiner Sammlung deutscher Volksmärchen auftauchte, stand er dort in einem ganz besonderen Zusammenhang und in einer nicht unwesentlich abweichenden Form.
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Denn der Satz, „was wäre das enthusiastische Volk unserer Denker, Dichter, Schweber, Seher ohne die glücklichen Einflüsse der Phantasie?“ bezieht sich ja gar nicht auf das deutsche Volk insgesamt, sondern auf ein Volk im Volke, nämlich auf die geistigen Gruppen, die mehr oder weniger aus dem Rahmen fallen.
Indem Musäus die „Schweber“ neben die Denker stellte, streifte er unbewußt das Gefahrdrohende. Abseits der glücklichen Einflüsse übt die Phantasie auch unglückliche. Carl Ludwig Schleich, der große Arzt, nannte Irrtum, Einbildung, Lüge und Wahrheit Kinder derselben Mutter Phantasie. Darin liegen bei uns Deutschen die gefährlichen inneren Elemente.
Von der Gewalttätigkeit zur Bestialität ist es nur ein Schritt
Trotzdem hat es immer ein den jeweils herrschenden Mächten entgegengesetztes, weltoffenes Deutschland gegeben, hellhörig, geistbeflissen und besonders befähigt zur Aufnahme, Zusammenfassung und Gipfelung aller Anregungen fremder Kulturen. Dieses Deutschland hat der Welt eine Unzahl von Talenten und einige Genies schenken können, es ist jedoch mit dem Einbruch des naturwissenschaftlichen Zeitalters mehr und mehr verlorengegangen oder unsichtbar geworden.
Gewiß verlief schon seit den Tagen des ersten „Furor teutonicus“ die kriegerische Linie neben der geistigen. Jetzt aber wurde der verhängnisvolle Bruch im Charakter enthüllt, nämlich der bedenkenlos materialistische Grundzug bei aller idealistisch schwärmenden Sehnsucht. Von diesem Augenblick an war das Geistige dem Kriegerischen untergeordnet und damit das deutsche Schicksal für ein Jahrhundert entschieden.
Außer unserem Lande ist kein Land der zivilisierten Welt, in dem die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung so schnell und penetrant in eine Veräußerlichung des gesamten öffentlichen Lebens eingemündet wäre. Darunter litten die menschlichen Qualitäten ebenso wie die geistigen Fähigkeiten. Welch ein Abstand zwar von Bismarck, dem gebildeten Realpolitiker, zu Hitler, dem eingebildeten Dummkopf – und doch welch bezeichnende Gleichheit in Nährboden, Natur und Zielsetzung!
Von der Gewalttätigkeit zur Bestialität, von der diplomatischen Intrige zu unverschleiertem Lug und Trug, vom miles gloriosus zum Bramarbas ist, wenn die letzten Schranken der Sittlichkeit und der christlich-religiösen Bindung einmal gefallen sind, eben nur ein Schritt, der im Zeitmaß der Geschichte gerade vierzig Jahre benötigte.
Zum ersten Male in der deutschen Geschichte ist reiner Tisch gemacht
Da stehen wir nun – oder richtiger: wir liegen am Boden. Nach dem „totalen Krieg“ der totale Zusammenbruch: ein Naturgesetz. Es ist menschlich, wenn wir das Naturgesetz als Katastrophe empfinden, aber es ist nicht politisch. Die Katastrophe wurde mittlerweile fast bis zum Überdruss beschrieben: Worte reichen ohnehin nicht aus für das, was jeder von uns tagtäglich am Leibe erfährt und noch erfahren wird.
Aber das Naturgesetzliche dieses Zustandes dringt leider ungenügend ins Bewusstsein, weil außer der Kraft auch der Wille zur Einsicht im letzten Jahrzehnt geschwunden ist. Zuviel ist auf uns eingestürmt, als dass wir der Abstumpfung hätten entgehen können. Eine wirkliche, individuell beglaubigte Jahrhundertwende ist ein großes Erlebnis.
Wenn man dagegen alle paar Monate oder gar Wochen den Eindruck hat, es sei ein Pauschaljahrhundert verflossen, so übersteigt diese untriftige Gewaltsamkeit, diese verwaschene Ungeheuerlichkeit jedes Fassungsvermögen. Hundert Jahre zwischen Kriegsschluß und heute; hundert Jahre zwischen Hitlers Erfolgen und Hitlers Niederlagen, hundert Jahre zwischen 1933 und 1939; hundert Jahre zwischen Hitlers Anfang und Weimars Ende; und so fort, bis auf diese groteske Weise doch noch Hitlers „Tausendjähriges Reich“ zustande kommt.
27.09.2017 07:52Zeitungsgründer. Der Journalist, Publizist, Schriftsteller, Mitherausgeber und Chefredakteur des Berliner Tagesspiegel, Erik Reger…
Wenn nun aber unser Volk Hunger und Elend in wahrer Schafsgeduld über sich ergehen ließ, um Hitlers Krieg zu ermöglichen und „durchzuhalten“, dann sollte es heute zu seiner Gewissensentlastung gestehen: jetzt haben wir etwas, um das zu hungern sich lohnt. Zum ersten Male in unserer Geschichte ist reiner Tisch gemacht worden. Zum ersten Male in der Weltgeschichte sind die Hauptschuldigen an einem Kriege und an einer Gesinnung, die ihn entfesselte, ausnahmslos gefasst worden, um vor einem weithin und noch auf spätere Geschlechter eindrucksvoll wirkenden Gerichtshof zu stehen. Zum ersten Male endlich berühren sich auf deutschem Boden die Völker aus Ost und West in der erklärten Absicht der Versöhnung und des Friedens.
Auch 1918 war ein Krieg verloren, doch fanden sich zuviele Gelegenheiten, es zu leugnen. Das Land war unzerstört. Die Inflation machte einer Scheinkonjunktur Platz. Europa wies noch reiche, den Handelsverkehr fördernde Länder auf. Geschlagene Generale brüsteten sich als „im Felde Unbesiegte“, bloß weil man versäumt hatte, sie zu verhaften. Wo nicht die Pensionsgelder der Republik, versetzten die Finanzen der Schwerindustrie sie in die Lage, ihre Dolchstoßlegende zu erdichten und antisemitische Vereinigungen zu gründen, um gegen die neue Verfassung zu wühlen.
Alle nationalistischen Zeitungen erschienen weiter, als sei nichts geschehen, neue schlüpften reptilhaft aus einem einzigen faulen Ei der militarisch-chauvinistischen Reaktion. Satanisch lockend nahe lag der Schluß: „Es lässt sich also auch nach einem verlorenen Kriege gut leben, folglich rentieren Kriege immer.“
Nichts von alledem ist heute möglich, weil nichts von alledem existiert. Glück im Unglück: wo all und jedes vertan und verspielt ist, ist neben dem Guten auch das Böse vertan und verspielt. Wir haben einen klaren Anfang. Nichts hindert uns: keine unterirdische Kanaille, keine Fememörder, kein Hindenburgmythos, kein Flaggenzwist, keine ihr Amt missbrauchenden Richter, Lehrer, Professoren, kein Dauer-Meißner, der bereit wäre, von Ebert bis Hitler Staatssekretär zu spielen.
Wir haben alle als Kriegsgewinnler zu gelten
Niemals ist, so betrachtet, die Situation für jeden einzelnen Deutschen so günstig gewesen –: er steht wie Gottvater am Anbeginn der Schöpfung, die Erde ist für ihn wüst und leer, aber sein Geist darf sich unbeschwert entfalten, um den schon von Goethe schmerzlich empfundenen Widerspruch aufzuheben, dass Deutschland nichts ist, obwohl der einzelne Deutsche viel ist. Es muß möglich sein, die achtbaren Individuen zu einer achtbaren Nation zu summieren. In der Weltordnung ist stets das Gestern im Heute, aber auch im Heute das Morgen enthalten.
Die Zukunft ist, mathematisch ausgedrückt, Vergangenheit plus Gegenwart plus x. Dieses X, die unbekannte Größe, ruht nur zum Teil im Schoße des Schicksals, außerhalb von uns selbst. Zu einem anderen Teile richtet es sich nach dem Geist, in dem wir die Tradition zu beurteilen, zu zergliedern und fruchtbar zu machen wissen.
Es ist nicht wahr, dass alle Deutschen schlecht sind; aber es ist nur zu wahr, dass die vielen, die schlechte Deutsche geworden sind, weil sie das Beste, das aus den besten Deutschen sprach, zuerst verkannten und dann verbannten, oder in milderen Fällen zuließen, dass es verschüttet wurde. Jeder, der heute in den Ruinen nach einem Rest seiner Habe gräbt, begeht eine symbolische Handlung. Denn genau so müssen wir auf dem Trümmerhaufen aller menschlichen und sittlichen Werte, den der leider nicht nur erduldete, sondern auch geduldete Herr Hitler hinterlassen hat, ein verschüttetes, redliches und strebend bemühtes Deutschland ausgraben.
Hitlers Propaganda war darauf aus, der Welt ein „deutsches Wunder“ vorzugaukeln, das uns die Schamröte für ewige Zeiten ins Gesicht treiben müsste, wenn jetzt ein wahrhaftiges deutsches Wunder misslänge. Von der positiven Aufgabe, der höheren Pflicht reden heute allerdings viele, die schon vor zwanzig Jahren davon geredet haben, ohne sie zu erfüllen.
Wir werden in Zukunft streng unterscheiden zwischen denen, die sich im Schönrednertum erschöpfen, und denen, die sich ihrer Aufgabe in Demut unterziehen. Demut ist ein sehr tiefes Wort unserer Sprache. Nach seiner Wurzel bedeutet es den Mut zum Dienen. Da wir ohne den Sieg der alliierten Heere wohl niemals mehr zu uns selbst gekommen wären, haben wir sozusagen alle als Kriegsgewinnler zu gelten. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist im Grunde gering. Folglich haben wir keine Ansprüche zu stellen, außer an uns selbst.
Deutschland ist in vieler Beziehung merkwürdig und absonderlich, voll des Bewundernswerten und voll des Hassenswerten, aber daß es nicht genug Männer hätte, eine demokratische Republik Deutschland demokratisch zu regieren und getarnte Feinde ebenso wie unfähige Freunde zu überwinden, ist ein Irrtum.
Diese Männer sind zu einem geistigen „Volkssturm“ aufgeboten, um durch ihr Selbstvertrauen dem deutschen Volke das Maß an Vertrauen der Welt zu gewinnen, das neben vielem anderen nach den Erklärungen des Präsidenten Truman und des Generals Eisenhower auch die Dauer der Besetzung unseres Landes bestimmen wird.
27.09.2017 07:52Selbst der Baum ist 1946 nur noch ein Gerippe: Der Weltkrieg hat Berlin zerstört, auch der Landwehrkanal – heute beliebter…
Wir wollen unsere Freiheit einmal uns selbst verdanken
Aber nicht deswegen, bloß um der Besatzung ledig zu werden, wollen wir eine demokratische deutsche Republik. Der Besatzung steht Deutschland ganz anders als 1918 gegenüber. Damals wurde sie törichterweise bis weit in die äußerste Linke hinein als ein Unrecht angesehen. Von Berlin aus blickte man feindselig auf die Truppen im Rheinland und sah in ihnen nur einen Anlaß mehr zu der ewigen Protestierpolitik, die man mangels besserer Einfälle verfolgte. Wer sich im Rheinland vernünftigerweise mit der Besatzung vertragen wollte, wurde verfemt.
Heute ist niemand, der an dem guten Verhältnis zwischen Besatzung und Bevölkerung Anstoß nimmt. Ganz im Gegenteil, jedermann begrüßt es. Und das rührt nicht etwa daher, dass die Deutschen buchstäblich zu niedergeschlagen wären, um sich zu unfreundlichen Gefühlen hinreißen zu lassen.
Nein, es liegt, wenngleich oft nur im Unterbewusstsein, die Erkenntnis darin, daß auf der Seite dieser fremden Soldaten Recht und Wahrheit sind. Daher sehen wir sie gern. Und wenn wir alles tun wollen, die Zeit der Besetzung abzukürzen, so nicht, um diese Soldaten loszuwerden, sondern in dem brennenden Wunsch, endlich dahin zu gelangen, dass wir unsere Freiheit einmal uns selber verdanken und ihrer nach eigenen Verdiensten würdig sind.
Dieser Beitrag erschien in der Erstausgabe des Tagesspiegels vom 27. September 1945. Lesen Sie hier Erik Regers Tagebuchaufzeichnungen zum Kriegsende 1945. Mehr zu Erik Reger und anderen Tagesspiegel-Autoren der frühen Jahre finden Sie auf unserer Themenseite. Archiv-Beiträge aus der Nachkriegszeit können Sie zudem bei Twitter lesen.