Andreas Reckwitz ist Professor für Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Herr Reckwitz, in Krisenzeiten ist die Soziologie gefragter denn je, Orientierungshilfe zu leisten. Wie bewerten Sie die gesellschaftlichen und politischen Reaktionen auf die Ausbreitung von Sars-CoV-2?
Auffällig ist zunächst, dass die aktuelle Krise sehr schnell einen enormen Kommentierungsbedarf hervorgerufen hat. Im digitalen Zeitalter werden Krisen in der Gesellschaft in Echtzeit kommentiert und verarbeitet. Im Diskurs potenziert sich die Krise. Die Selbstkommentierung unseres Zustands erweckt den Eindruck eines grundsätzlichen Bruchs.
Für Soziologen stellt sich aber die Frage, inwiefern sich ein solches Ereignis tatsächlich in einen langfristigen Strukturwandel übersetzt und inwiefern nicht. Der Ausnahmezustand ist ja gerade kein Dauer- oder Normalzustand.
Dennoch scheint die kollektive Erfahrung dieser Tage die einer historischen Zäsur zu sein – nach der Pandemie, so legen es die einschlägigen Debatten nahe, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Ihre Kollegin Eva Illouz etwa hat in der „Süddeutschen Zeitung“ jüngst auf die Fragilität der uns meist als selbstverständlich erscheinenden gesellschaftlichen Ordnung hingewiesen. Wie wirkt sich die Corona-Krise auf das Selbst-Bewusstsein der Gesellschaft aus?
Natürlich zeigt sich in großen Krisen stets der fragile und kontingente Charakter einer gesellschaftlichen Struktur, das war auch in der Finanzkrise 2008 der Fall oder nach dem 11. September 2001. Ich würde da in die aufgeregte Debatte aber etwas Nüchternheit hineinbringen wollen.
Was wir gegenwärtig erleben, ist prinzipiell als ein Fall staatlichen Risikomanagements zu werten – sicher ein besonders weitreichendes und zudem globales Risikomanagement: Das Risiko ist eine exponentielle Verbreitung der Infektion. Die Regierungen entwickeln – nicht zuletzt dank naturwissenschaftlicher Unterstützung – Strategien der Risikominimierung.
Das ist für die moderne Gesellschaft jedoch typisch: Man lässt die Seuche nicht einfach geschehen, sondern versucht die Vorgänge aktiv zu beeinflussen. Die Minimierung des einen Risikos schafft dann aber möglicherweise andere Risiken. Diese müssen gegeneinander abgewogen werden
In Ihrem jüngsten Werk „Das Ende der Illusionen“ haben Sie den Übergang vom entgrenzten Liberalismus der letzten drei Jahrzehnte zu einem einbettenden Liberalismus prophezeit. Aktuell zeigt der Staat seine Muskeln, in Deutschland ist die „Schwarze Null“ erstmal vom Tisch. Hat die aktuelle Großkrise das Potenzial, als Treibmittel eines sozioökonomischen Wandels zu wirken?
Sie hat in jedem Fall das Potenzial für einen Wandel des Staates und der Regierungspolitik. Von den 1980er bis 2010er Jahren dominierte das politische Paradigma eines Dynamisierungsliberalismus: es ging um Deregulierung und Entgrenzung, der Märkte, der Individuen, der Mobilitäten – man forcierte die Globalisierung. Der Staat zog sich häufig zurück, seine Steuerungsmöglichkeiten wurden abgebaut.
Hintergründe zum Coronavirus
Seit der Finanzkrise 2008 hat sich aber mehr und mehr ein kritisches Bewusstsein ausgebildet, dass bestimmte staatliche Regulierungsaufgaben nötig sind, etwa wenn es um die Bereitstellung einer Infrastruktur geht oder die Sicherung von sozialen Standards, um Wohnen, Verkehr und Gesundheit.
Es ist sehr zu vermuten, dass die Pandemie dieser Renaissance des Staates einen Schub gibt: der Staat muss langfristig für eine entsprechende Gesundheits-Infrastruktur sorgen, aber auch insgesamt das dynamische Geschehen der Weltgesellschaft mit Regeln versehen. Das wäre ein einbettender Liberalismus. Als Alternative wird aber auch die Gefahr eines autoritären Staates sichtbar, der Grundrechte beschneidet.
Inwiefern ist die Austeritätspolitik der letzten Jahre, sind Privatisierungen und Sparmaßnahmen im Feld der Daseinsvorsorge für die Heftigkeit, mit der die Corona-Krise etwa ein Land wie Italien geißelt, mitverantwortlich zu machen?
Wir haben im Zuge des Neoliberalismus in sehr vielen Ländern eine starke Privatisierung und eine damit einhergehende renditebedingte Verschlankung von Gesundheitssystemen erlebt. Die Kommerzialisierung in diesem Bereich hat dazu geführt, dass die Notfallversorgung der Bevölkerung in vielen Gesellschaften nicht ausreichend zur Verfügung steht.
Aktuell wird mantraartig auf die Systemrelevanz repetitiver Tätigkeiten aus dem Dienstleistungssektor verwiesen. Neben Ärztinnen und Virologen sind Krankenschwestern, Lieferanten und Kassiererinnen die Held*innen der Stunde. Da wird dann auch mal fleißig von Balkonen geklatscht. Werden wir langfristig eine ökonomische und symbolische Aufwertung von bislang benachteiligten Berufsgruppen erleben?
Auf jeden Fall kann man beobachten, dass die bislang unsichtbaren Tätigkeiten in der Krise schlagartig sichtbar werden. Für die Gegenwartsökonomie ist generell ein polarisierter Postindustrialismus kennzeichnend: 75 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in den Dienstleistungen, aber innerhalb dieses Sektors steht die Wissensarbeit der Hochqualifizierten den einfachen Dienstleistungen der Niedrigqualifizierten gegenüber – Akademikerklasse hier, service class dort.
Die Normalisierungsarbeit der einfachen Dienstleistungen, jener, die sich etwa um Pflege, Sicherheit, Reinigung, Transport und Lebensmittelversorgung kümmern, ist aber gesellschaftlich fast unsichtbar, solange der ‚Normalzustand‘ funktioniert. Jetzt, wo er zur Disposition steht, wird deutlich, dass die Gesellschaft auf sie angewiesen ist. Ob sich das für die betreffenden Gruppen langfristig auszahlt – symbolisch oder materiell –, wird sich zeigen.
Das Horten von Nudeln und Klopapier ist binnen kürzester Zeit zum internationalen Symbol eines radikalen Egoismus geworden. Gleichzeitig erleben wir auch viel Hilfeleistung und Solidarität. Wie wirkt sich die Krise auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus?
Es werden zwei Muster deutlich: das eine ist die Erfahrung eines Kollektivbewusstseins – alle sind betroffen. Das führt auch zu solidarischer Unterstützung, im ‚Kiez‘, in der Nachbarschaft. Für einen Ausnahmezustand – der ja bislang auch immer noch recht geordnet verläuft – ist solch ein Kollektivbewusstsein typisch. Man wird sehen, ob davon etwas übrigbleibt.
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Das zweite Muster: Einige Menschen können auf Ressourcen der Flexibilität zurückgreifen. Die Selbstoptimierung, die man aus der spätmodernen Kultur kennt, wird hier weitergeführt: wie achte ich jetzt auf Gesundheit und Ernährung? Wie sorge ich für Bewegung und Abwechslung, wie kann ich die Krise als Chance zum Innehalten begreifen etc.? Es gibt im Netz dazu eine Fülle von Beratungsangeboten: das Individuum der Selbstentfaltung und Selbstoptimierung behandelt die neue Situation also mit bewährten Strategien.
Die urbane Mittelschicht hat den geordneten Rückzug ins Homeoffice angetreten, während das Dienstleistungsproletariat auf der Straße malocht, um den Laden irgendwie am Laufen zu halten. Die positiven Nebenwirkungen des Shut-Downs – mehr Zeit für die besagte Selbstsorge und eine Entschleunigung des alltäglichen Hamsterrads – kommen ausschließlich denen zu Gute, die gerade nicht um ihre Jobs bangen oder die Gesellschaft an vorderster Front versorgen müssen. Inwiefern wirft Corona die Klassenfrage auf?
Das ist zentral: Auch wenn sich das Social Distancing an alle richtet, betrifft die Krise die sozialen Milieus in sehr unterschiedlicher Weise. Generell stellt sich die Sozialstruktur der Spätmoderne als die einer Drei-Klassen-Gesellschaft dar: die neue Mittelklasse der Akademiker, die traditionelle Mittelklasse und die neue prekäre Klasse (service class) stehen einander gegenüber.
In der Risikokonstellation der Corona-Krise werden die Karten nun neu gemischt: In jeder dieser drei Klassen existieren Subsegmente, die krisenfest sind und andere, die heftig im Wind stehen. So gibt es ein Segment in der service class, dass sicher gut durch die Krise kommt, nämlich die Infrastrukturberufe, also etwa die viel gelobten Kassiererinnen in Supermärkten und Drogerien.
Dagegen gibt es im Bereich Verkehr, Gastronomie und Hotel viele Existenzen, die gerade vor dem Nichts stehen. All jene Dienstleistungen, bei denen es nicht um Grundversorgung geht und bei denen man zugleich auf engen Kundenkontakt oder kurzfristige Nachfrage angewiesen ist, haben enorme Probleme.
Auch innerhalb der neuen Mittelschicht gibt es eine Spaltung: da sind die in der Wissensökonomie Beschäftigten, deren Gehälter einfach weiterlaufen und bei denen sich die Arbeit lediglich an den heimischen Schreibtisch verlagert hat. Auf der anderen Seite stehen viele Kulturschaffende, der ganze Kunst-, Musik- und Theaterbetrieb, die Soloselbstständigen – ein Segment, das von immer neuer Nachfrage lebt oder auf öffentliche Kontexte angewiesen ist; es ist in eine bedrohliche Situation geraten.
Die EU wirkt in der Krise nur wenig gemeinschaftlich. Stattdessen werden allerorten Grenzen hochgezogen, der Nationalstaat bringt sich in Stellung. Wird Corona einen langfristigen Kontrapunkt zum Transnationalisierungsprozess der letzten Jahre setzen?
Globalisierungsprozesse sind ja nie linear, es gibt immer Phasen der Steigerung und der Hemmung, Jürgen Osterhammel hat das etwa für das lange 19. Jahrhundert gezeigt. Es ist sehr zu vermuten, dass die Corona-Krise dazu beiträgt, die Dynamik der Globalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte zu bremsen.
Ob globale Produktionsketten teilweise wieder lokalisiert werden, muss man abwarten, aber dass die globale Mobilität von Individuen allein schon aus gesundheitspolitischen Gründen gehemmt wird, ist sehr zu vermuten. Auch hier gilt: die Kritik an einer zügellosen Globalisierung gibt es schon seit längerem, und die Folgen der Corona-Krise würden eine Entwicklung intensivieren, die bereits im Gange ist.
Aufgrund der außerordentlichen Situation befürworten die meisten Bürger*innen ohne viel Aufhebens die massivste Grundrechtseinschränkung seit dem Zweiten Weltkrieg. Steht zu befürchten, dass davon etwas zurückbleibt, Gesellschaften nachher illiberaler sein könnten als vor der Krise?
Es ist natürlich bemerkenswert, dass die meisten Menschen die verordneten Maßnahmen widerstandlos befolgen. Das scheint aber daran zu liegen, dass der derzeitige Ausnahmezustand mit starken wissenschaftlichen Gründen versehen ist, die über die Politik in die Öffentlichkeit hineingetragen werden. Dass die Seuchenkurve abgeflacht werden muss, leuchtet den meisten schlicht ein.
In der extremen Fassung, in der wir das im Moment erleben, ist das sicher nur kurzfristig denkbar. Die Ausgangsbeschränkungen haben ja andere Nebenfolgen: Freiheitseinschränkung, Zerstörung von beruflichen Existenzen, psychische Folgen. Dass die Gesellschaften sich damit zumindest in Westeuropa und Nordamerika dauerhaft abfinden könnten, ist kaum vorstellbar.
Interessant in diesem Zusammenhang ist aber die Überwachungstechnik des digitalen Trackings von Infizierten in Ostasien. Es scheint eine offene Frage zu sein, ob sich dafür auch in westlicher Perspektive Argumente finden.
Sehen Sie eine Gefahr, dass sich autoritäre Regierungstechniken in der Pandemiebekämpfung im Gegensatz zu liberalen Herrschaftsformen als potenter erweisen, und dass die Angst vor dem Virus auch in Europa den Ruf nach schnellen – also undemokratischen – Entscheidungsverfahren befördern könnte?
Es ist wichtig zu sehen, dass die Art des gesundheitlichen Risikomanagements in verschiedenen Ländern unterschiedlich erfolgt. Da ist also nichts alternativlos: China hat es anders gemacht als Südkorea und Taiwan, Westeuropa macht es anders, und Schweden geht nochmal einen anderen Weg.
Verschiedene Techniken haben alle ihr Vor- und Nachteile. Man muss sich immer klar machen: nichts ist von der Virologie diktiert, alles ist eine Frage der politischen Abwägung. Und neben dem gesundheitlichen Risiko sind eben andere Faktoren wie die Bewahrung einer liberalen Demokratie mit starken Persönlichkeitsrechten sowie einer starken Wirtschaft und einem funktionierenden Arbeitsmarkt relevant. Man kann nicht alles grenzenlos einer womöglich autoritären Pandemiebekämpfung unterordnen. Nach meinem Eindruck ist in Westeuropa dafür eine Sensibilität vorhanden.