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Warum der Deutschrap so verstrahlt ist

Womöglich haben sich die Verschwörungstheoretiker doch vertan. Womöglich stimmt, was sie uns als wahre Wahrheit anpreisen wollen, am Ende gar nicht. Darauf deuten jedenfalls die neuesten brisanten Informationen hin, die Popsänger Xavier Naidoo zu Wochenbeginn im Internet mit seinen Fans teilte: Demnach befindet sich unter Deutschland ein riesiges, weitverzweigtes Tunnelnetz. Einer dieser Tunnel reicht bis nach New York. Und dort unten trägt sich aktuell eine brutale Schlacht zu – zwischen Robotern und Klonen.

Für den Fortgang der Menschheit sowie der Coronakrise könnte der Ausgang dieser Schlacht entscheidend sein. Die Neuigkeiten hat Xavier Naidoo von einem anonymen Tippgeber. Der Sänger vermutet, es handle sich um „eine der krassesten Informationsquellen aller Zeiten, die man hier in Deutschland je gesehen hat“.

Es fällt schwer, noch den Überblick zu behalten. Sido faselt von „sehr reichen, sehr mächtigen Leuten“, die Kinder verschwinden lassen, von „unterwanderten Medien“ und natürlich den Rothschilds. Ali Bumaye berichtet über Verschwörer, die mit US-Präsidenten paktieren. Fler verbreitet das Märchen, bei den Maßnahmen gegen Corona handele es sich um einen mafiösen Betrügertrick.

Es scheint, als grassiere ein Virus in der deutschen Popkultur. Insbesondere der Hip-Hop, unter Jugendlichen das aktuell kommerziell erfolgreichste, Genre, ist betroffen. Aber auch Künstler wie Senna Gammour oder eben Naidoo verbreiten Unsinn.

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Hört das wieder auf, wenn die Pandemie vorbei ist? Warum scheint gerade der Deutschrap so anfällig für Verschwörungsmärchen? Und was reimt sich eigentlich auf Aluhut?

Das Geschwurbel hat nicht erst mit Corona begonnen, es ist bloß unüberhörbar geworden. Der eine Hip-Hopper behauptet seit Jahren, der Satan sei ein „physisches Wesen“, von dem die Mächtigen der Welt ihre Befehle entgegennehmen. Der andere glaubt, die Erde könne gar nicht rund sein. Alle Fakten sprächen für die Scheibentheorie.

Weil sie ihre Thesen in Interviews sogenannter „Deutschrap-Medien“ verbreiten, auf Onlineplattformen, die für ihre Reichweite und damit Wirtschaftlichkeit auf das Wohlwollen der Künstler angewiesen sind und deshalb selten widersprechen, sondern jede Ungeheuerlichkeit staunend hinnehmen, streuen die Rapper ihre Theorien ungefiltert unter ihren jungen Fans.

Für Außenstehende ist das unterhaltsam, weil unfreiwillig komisch. Tatsächlich ist es ein großes Ärgernis.

Sie schaden nicht nur mit dem, was sie verbreiten. Sondern auch damit, worüber sie schweigen. Denn in Wahrheit gibt es genug Missstände, genug weltliche Probleme, die sich anzuprangern lohnten, vor denen gewarnt werden müsste – und dies beherrschen Jugend- und Subkulturen sonst exzellent.

Doch statt sich etwa um soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierungen aller Art, um Klimakatastrophe, Korruption, sexuellen Missbrauch, Altersarmut oder Nord-Süd-Gefälle, reflektierte Kapitalismuskritik, um Ausbeutung prekär Beschäftigter, organisierte Kriminalität, Polizeigewalt, veraltetes Urheberrecht, Waffenexporte oder wenigstens um die miese Netzabdeckung zu kümmern, begnügen sich die Deutschrapper mit Hokuspokus.

Weil sie dies so laut und reißerisch tun, überdecken sie auch jene seltenen Stimmen, die sich um echte Gesellschaftskritik bemühen. Sie wirken wie die Schafe in Orwells „Farm der Tiere“, die mit penetrantem Geblöke jede nötige Kritik an den Herrschenden verhindern.

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Es gab doch mal einen unausgesprochenen Generationenvertrag: Die Jungen rebellieren, prangern die Verfehlungen der Alten an, wollen das Gegenwärtige verändern und besser machen. Jeder Fortschritt wird immer erkämpft. Auch in der Popkultur ist dies ein roter Faden. Bei den Hippies, den Rockern und Halbstarken, den Diskurspoppern und Grungern, selbst bei Maximalverweigerern wie den Punks. In Dokus über die Chaostage von Hannover ist von besoffenen Supermarktplünderern mehr dezidierte Gesellschaftskritik zu hören als auf aktuellen Deutschrap-Alben.

Dabei müssten die Hip-Hopper nicht mal Alternativen anbieten. Schon die bloße Ablehnung des Bestehenden kann Fortschritt einleiten. Vorausgesetzt, ein „Fuck you, I won’t do what you tell me“ richtet sich gegen reale Unterdrücker statt gegen Fantasiemächte.

Weil sie sich in Märchen verlieren, finden sie sich mit den weltlichen Verhältnissen ab, sind angepasster und untertäniger als Ü50-Musiker wie Smudo, Campino oder Die Ärzte. Wie kann es sein, dass Bono mit seinen 100 Jahren so viel woker wirkt als alle deutschen Gangstarapper zusammen?

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Die traurige Verfasstheit, die politische Ahnungs- und Ambitionslosigkeit der aktuellen Rappergeneration hat Kollegah vor Jahren, vermutlich ungewollt, in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Niemand von uns ist annähernd so tief drin, dass er alles durchblicken kann. Fakt ist aber, so wie es uns erzählt wird, so läuft’s nicht.“

Ihre politische Unbedarftheit macht die Rapper anfällig für rechte und antisemitische Narrative. Manche verbreiten Inhalte der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ oder eines pegida-nahen Internetsenders. Kollegahs Label rät, sich doch mal ernsthaft mit der Theorie kinderbluttrinkender Superreicher zu befassen und darüber mit „Experten“ auszutauschen – und verweist dann ausgerechnet auf einen rechten Blogger.

Das Kokettieren mit Verschwörungstheorien passt perfekt zum heute dominierenden Macker-Rap. Es erfüllt eine ähnliche Funktion wie die szenetypische Selbstinszenierung,  man sei dick im Drogengeschäft oder Zuhälter. Wer sich mit angeblichen Weltverschwörern, mit übermächtigen Bösewichten anlegt, beweist heldenhaften Mut. Und das Gute: Vom Gegner ist nichts zu befürchten, weil er ja gar nicht existiert. Er kann einen nicht mal abmahnen.

Ein Stück Vernunft erlebt man bei den betreffenden Künstlern erst, wenn sie selbst zum Inhalt wirrer Theorien werden. Der Verschwörungs-Youtuber Tilman Knechtel behauptet in seinen Videos etwa, Kool Savas sei Illuminat, weil er in einem Video die Hände so seltsam gefaltet habe. Auch Fler paktiere mit Geheimbünden, Haftbefehl habe vorab vom Absturz der German-Wings-Maschine gewusst, das sei doch verdächtig. Fler antwortete, wie man es von ihm gewohnt ist: Er kündigte dem Youtuber Prügel an.