/Lockdowns funktionieren – wenn man sie nur rechtzeitig beschließt

Lockdowns funktionieren – wenn man sie nur rechtzeitig beschließt

Wären wir Menschen allesamt Einsiedler, hätten Sars-CoV-2-Viren keine Chance. Die wegen ihres Protein-Stachelkranzes „Coronaviren“ genannten Krankheitserreger könnten den großen Abstand zwischen uns nicht überwinden, also nicht aus einem Körper in den nächsten gelangen.

Solange es keine immunisierenden Impfstoffe und keine Medikamente gegen die Coronaviren und die von ihnen ausgelöste Krankheit Covid-19 gibt, können wir deshalb die Seuche nur mit „nicht-pharmazeutischen“ Maßnahmen“ bekämpfen. Sie haben alle das gleiche Ziel: möglichst wenig Begegnungen von Menschen, und wenn, dann so kurz wie möglich und mit großem Abstand.

Nicht nur „Corona-Leugner“ machen sich dabei gerne lustig über die vermeintliche Absurdität mancher Maßnahmen, etwa, dass Kinder eng beieinander im Klassenzimmer sitzen, aber nachmittags nicht miteinander spielen sollen. Doch Kontaktbeschränkungen nach Schulschluss verringern eben mit Sicherheit die Zahl von Infektionen am Nachmittag – unabhängig davon, wie viele Infektionen morgens in den Schulen stattgefunden hatten.

Jede Maßnahme, die zu weniger Begegnungen von Menschen führt, oder die dabei wenigstens die Abstände vergrößert und die Kontaktzeiten verkürzt, senkt die Zahl der Neuinfektionen.

Masken wirken dabei gleichsam als Distanzvergrößerer. Und welche Distanzen Corona-Viren im Extremfall überwinden können, verdeutlicht eine vor kurzem im „Journal of Korean Medical Science“ veröffentlichte Studie: Eine infizierte Person hatte nachweislich innerhalb von fünf Minuten einen anderen Menschen angesteckt, der 6,50 Meter entfernt war.

Verschätzt: Lockdown Light war zu light

Je mehr Maßnahmen gleichzeitig ergriffen werden und je mehr Menschen sie einhalten müssen und auch tatsächlich einhalten, desto mehr senkt deren summierte Wirkung die Zahl der Neuinfektionen. Im Rückblick auf den harten Frühjahrs-Lockdown erkennt man dessen Erfolg: Die Höchstzahlen von etwa 6000 Neuinfektionen pro Tag Ende März/Anfang April gingen stetig wieder zurück auf wenige hundert Infizierte pro Tag den ganzen Sommer hindurch.

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Offenbar kann man jedoch nur schwer vorhersagen, wie sich die Infektionszahlen der Corona-Pandemie bei anderen gewählten Kombinationen von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen entwickeln werden. Bei der ab dem 2. November gewählten Lockdown-Variante „light“ verschätzte sich die Regierung gründlich: Das Ziel „Flatten the curve“ wurde zwar erreicht, das exponentielle Wachstum wurde gestoppt. Die Welle wurde nicht gebrochen, sie wurde nur nicht höher – und auch das nur vorübergehend.

Dafür lassen sich im Nachhinein mehrere Gründe finden: Erstens kamen die Maßnahmen deutlich später als beim Frühjahrs-Lockdown. Bereits ab 21. Oktober, also zehn Tage vor dem erneuten Lockdown, zählte das Robert-Koch-Institut täglich schon mehr als 15.000 neu an Covid-19 erkrankte Menschen. Zweitens hatte der Teil-Lockdown im Herbst die „aushäusigen Aktivitäten“ der Menschen nur halb so stark eingeschränkt wie der harte Frühjahrs-Lockdown. Zu dieser Erkenntnis kamen Mobilitätsforscher der TU Berlin unter Leitung von Kai Nagel nach der Auswertung von anonymisierten Mobilfunkdaten in Berlin.

Ein weiterer Grund dafür, dass die Hoffnungen auf eine ausreichende Effektivität des Herbst-Lockdowns enttäuscht wurden, wird schon durch dessen Wohlfühl-Etikett „light“ angedeutet: Alle Menschen durften weiterhin einkaufen nach Herzenslust, Schülerinnen und Schüler durften weiterhin zur Schule gehen und Studierende in die Universitäten. In der Fernseh-Talkshow von Maybritt Illner kommentierte die Tübinger Ärztin Lisa Federle diese Lockdown-Leichtversion lakonisch: „Wer es allen recht machen will, macht es am Ende nur dem Virus recht.“

Aber hätte man denn schon vorher schlauer sein und wissen können, dass die beschlossenen Maßnahmen nicht ausreichen würden? Ja, hätte man. Schon im Juni veröffentlichte eine internationale Forschergruppe um Jan Brauner von der Universität Oxford eine Studie über die Effektivität verschiedener nicht-pharmazeutischer Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Sie enthält unter anderem ein Rechenmodul, mit dem man schnell die Wirksamkeit verschiedener Kombinationen solcher Maßnahmen abschätzen kann.

Die Berechnungen beruhen auf den konkreten Erfahrungen von 34 europäischen und sieben außereuropäischen Staaten mit Lockdown-Maßnahmen gegen die erste Pandemie-Welle im Frühjahr. Hätte jemand die Maßnahmen-Kombination des Herbst-Lockdowns in Deutschland von diesem Rechenprogramm überprüfen lassen, wäre er oder sie heute nicht überrascht, dass die Infektionszahlen derzeit sogar noch höher liegen als Anfang November. Mit dem vorgegebenen Maßnahmen-Katalog – also insbesondere ohne Schließung von Einzelhandelsgeschäften, Schulen und Universitäten – spuckt der Rechner nämlich einen Reproduktionsfaktor R über 1 aus. Das heißt: Jeder Infizierte steckt durchschnittlich mehr als einen weiteren Menschen an. Es war also tatsächlich auch aus Virenperspektive ein Lockdown light.

Wissenschaftlichen Erkenntnisprozess missverstanden

Allerdings gehört zur wissenschaftlichen „Faktenlage“ eben auch, dass tagtäglich Dutzende neuer Studien herauskommen, nicht selten mit widersprüchlichen Aussagen. Die in solchen Fällen sonst nur in Fachkreisen ablaufende Diskussion und Einordnung konnte die Öffentlichkeit in diesem Jahr zum Teil live mitverfolgen, etwa in Talkshows, in denen die Drostens, Brinkmanns, Streecks und Lauterbachs die neuen Erkenntnisse über das Virus mal so, mal so interpretierten. Die Virologen würden „alle paar Tage ihre Meinung ändern“, so interpretierte der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, die Debatten – und offenbarte damit ein tiefes Missverständnis über das Wesen von Wissenschaft.

Nach landläufiger Vorstellung liefert Wissenschaft endgültiges wahres Wissen über die Welt. Doch die vor aller Augen stattfindenden Bemühungen der Virologen und Epidemiologen, dem Corona-Virus auf die Schliche zu kommen – woher kam es, wie verbreitet es sich, wie bekämpft man es? – schenkten den Menschen einen Einblick in den Maschinenraum der wissenschaftlichen Erkenntnissuche wie nie zuvor. Und zu ihrem Erstaunen sahen sie dort: Keine Sicherheit zunächst – nirgendwo. Es fehlten Daten, Experimente, Erfahrungen mit den Viren. Doch allmählich lichtete sich der Nebel des Unwissens. Und manche, anfangs plausibel erscheinende Hypothese musste verworfen werden.

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Mit nachträglicher Rechthaberei hat das nichts zu tun. Nur auf der Grundlage von Fakten und Hypothesen, die auch nach strenger Prüfung allgemein als richtig anerkannt werden, kann weiter geforscht werden. Diese Methode des, nach Karl Popper, „kritischen Rationalismus der Wissenschaften“ führte auch bei der Erforschung der Corona-Pandemie schnell zu Erfolgen: Schon wenige Tage nach den ersten Erkrankungen durch den damals noch „Wuhan Seafood Market Pneumonia Virus“ genannten Erreger hatten chinesische Forscher seinen genetischen Bauplan vollständig entschlüsselt. Und weniger als ein Jahr später gibt es nun bereits mehrere Impfstoffe.

Nicht jeder Arzt ist Epidemiologe

Ein weiteres Beispiel für die Erkenntnisstärke der Wissenschaft: Die mathematische Beschreibung und die Interpretation des Verlaufs der Corona-Pandemie. Ab Anfang Oktober begannen die den ganzen Sommer hindurch niedrigen Infektionszahlen wieder anzusteigen. Seit nunmehr bereits zwei Monaten stecken sich täglich wieder weitaus mehr Menschen mit dem Corona-Virus an als im Frühjahr. Was auch immer die Gründe dafür sein mögen – Urlaubsrückkehrer, Unterrichtsbeginn, vermehrter Aufenthalt in geschlossenen Räumen, zunehmende Sorglosigkeit und wachsende Pandemiemüdigkeit – gänzlich unerwartet kam diese zweite Pandemiewelle keinesfalls. Sie wurde vielmehr von namhaften Epidemiologen bereits im Frühjahr vorhergesagt, einschließlich der Mahnung, dass sie zu weitaus höheren Infektionszahlen anschwellen könnte als die erste Welle im Frühjahr.

Gewiss: Es gab durchaus auch andere Vorhersagen: „Gemeinsam mit vielen Virologen und Immunologen glaube ich nicht an eine ausgeprägte zweite Welle“, zitierte das Handelsblatt etwa Curt Diehm, einen Mediziner der Universität Heidelberg, der allerdings Internist und Herzspezialist und kein Epidemiologe ist. Und auch nicht jeder Virologe kennt sich offenbar gut genug mit Coronaviren und Pandemieverläufen aus.

Die Welle kam. Und es war nicht der Blick in eine Kristallkugel oder in die Sterne, der Epidemiologen wie Michael Osterholm, mittlerweile Mitglied des Covid-19-Beirats des kommenden US-Präsidenten Joe Biden, schon Anfang Mai (siehe Grafik) erkennen ließ, dass man mit ihrem Anrollen rechnen musste. Osterholm und seine Mitarbeiter blickten vielmehr zurück auf die Geschichte vergangener Pandemien – genauer: auf Grippe-Pandemien. Und sie leiteten daraus ab, was auch Corona noch anrichten könnte, wenn man ihm die Gelegenheit dafür geben würde.

Coronavirus -Szenario und Realität - Infografik

Coronavirus -Szenario und Realität - Infografik

Realität folgt dem prognostizierten Szenario

Denn die Viren, die Influenza verursachen, verbreiten sich ähnlich wie Coronaviren: in Tröpfchen und Aerosolen in der Atemluft von Mensch zu Mensch. Die „Mutter aller Pandemien“ die „Spanische Grippe“, forderte zwischen 1918 und 1920 in drei Wellen mindestens 20 Millionen Menschenleben. Aus dem Verlauf dieser Pandemie und sechs weiteren ähnlich verlaufenden seit 1700 leitete Osterholm schon Anfang Mai drei mögliche Szenarien für den Verlauf der Corona-Pandemie ab.

Das zweite Szenario hielt Osterholms Forschungsteam für das wahrscheinlichste – und retrospektiv liest es sich wie das Drehbuch für die Entwicklung der vergangenen Monate: „Der ersten Covid-19-Welle im Frühjahr 2020 folgt eine höhere Welle im Herbst oder Winter 2020. (…) Diese Entwicklung wird erneute Maßnahmen erfordern, um zu versuchen, die Ausbreitung der Infektionen einzudämmen und eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern.“

Spätestens Mitte September hätte man erkennen müssen, dass diese Vorhersage exakt zutreffen würde: Die zweite Welle begann sich aufzubauen. Aber erst ab 2. November handelte man – und auch das weitere sechs Wochen lang viel zu zaghaft. Die wichtigste Lehre nach dem ersten Pandemie-Jahr lautet also genau so, wie es Greta Thunberg mit Blick auf den Klimawandel formulierte: „Hört auf die Wissenschaft!“

Und auch der deutsche Barockdichter Friedrich Freiherr von Logau klingt heute nicht barock, sondern sehr aktuell in seinen Worten: „In Gefahr und größter Not, bringt der Mittelweg den Tod“.