/Als die Welt die Gefahr begreift, ist es schon zu spät

Als die Welt die Gefahr begreift, ist es schon zu spät

Zwölf Monate, in denen wir das Virus kennenlernten: Nie zuvor hat die Wissenschaft so schnell so viel über einen neuartigen Erreger gelernt. Doch noch immer wissen wir viel zu wenig. In einer dreiteiligen Chronik zeichnen wir die Erkenntnisfortschritte zum Coronavirus Sars-CoV-2 und Covid-19 nach.

Hier lesen Sie die Monate von Januar bis April, in denen die Pandemie begann und zunehmend klar wurde, welche Gefahren von dem Virus ausgehen.

JANUAR: Wie 2019 den neuen Zwanzigern noch etwas Übles mit auf den Weg gab

Was im Jahr 2020 das Leben der gesamten Menschheit verändern wird, beginnt bereits im Dezember 2019. Oder womöglich schon Monate vorher: Ein Coronavirus springt von einer Fledermaus auf ein anderes Säugetier und von dort auf den Menschen über. Wer der Patient Null ist, weiß bis heute niemand.

Anfangs macht das Virus wohl nur Einzelne krank, die wieder gesund werden oder sterben, ohne einen anderen Menschen anzustecken. Doch irgendwann passt sich der Erreger durch zufällige Mutationen seines Erbguts so gut an den neuen Wirtsorganismus an, dass er nicht mehr nur vom Tier auf den Menschen, sondern auch von Mensch zu Mensch übertragen wird.

Das bleibt lange unbemerkt. Doch irgendwann häufen sich in den Krankenhäusern der 11-Millionen-Stadt Wuhan schwere Atemwegserkrankungen. Einige Ärzte schlagen Alarm, unter ihnen Li Wenliang.

Li Wenliang warnte, wurde vom Staat diszipliniert und erlag dem Virus.imago images/ZUMA press

Doch die Behörden kanzeln ihn als Unruhestifter ab, verbieten ihm das Wort. Als klar wird, dass er recht hat, ist es zu spät. Immer mehr Erkrankte melden sich in den Kliniken, die ersten sterben, später auch Wenliang. Am 31.12. meldet die chinesische Regierung der Weltgesundheitsorganisation WHO den Ausbruch.

Eine Woche später haben chinesische Forscher ein Coronavirus als Verursacher identifiziert, am 10.1. ist die Erbgutsequenz auf einer Virologenwebsite veröffentlicht und Speziallabore überall auf der Welt, allen voran das von Coronavirus-Experte Christian Drosten von der Charité, entwickeln einen Test, mit dem das Virus identifiziert werden kann.

Lesen Sie unsere weiteren Teile des Rückblicks auf das Jahr des Coronavirus:

Anfangs reagiert Drosten nicht sehr besorgt, stuft das Virus nicht als gefährlicher ein als den verwandten Sars-Erreger von 2002/2003, der nach einigen Monaten unter Kontrolle war. Doch Neuinfektionen mit dem neuen Coronavirus nehmen so rapide, exponentiell, zu, dass die chinesische Regierung am 22. Januar Wuhan abriegelt und den ersten Lockdown des Jahres verhängt.

Doch längst ist das Virus außer Landes gereist, in Europa, den USA und vielen anderen Regionen werden Infizierte identifiziert. Die WHO ruft am 30.1. den internationalen Gesundheitsnotstand aus, drei Tage nachdem auch in Deutschland ein erster Fall registriert wird, ein 33-jähriger Mitarbeiter des Automobilzulieferers Webasto. Die Erkrankung verläuft für ihn und seine Familie glimpflich, Forscher und Ärzte lernen anhand des Falls jedoch viel über das Virus.

Der Wissenschaftler der Pandemie: Charité-Chefvirologe Christian Drosten.Foto: imago images/Reiner Zensen

FEBRUAR: Infektiös, bevor man sich krank fühlt

Das Unwissen über das neuartige Virus ist groß zu Beginn der Pandemie. Eine der wichtigsten Fragen: Wie und wann wird das Virus übertragen? Im Februar liefert die Rekonstruktion der ersten Sars-CoV-2-Infektionen in Deutschland einige Hinweise. Am 20. Januar fliegt eine Mitarbeiterin des Autozubehör-Herstellers Webasto aus der Filiale Schanghai für eine Besprechung nach München.

Müdigkeit, Brust- und Rückenschmerzen hält sie, „Patientin Null“, zunächst für Jet-Lag-Symptome, geht aber, zurück in China, am 25. zum Arzt, weil sie nun auch Fieber hat. Am 26. wird die Infektion diagnostiziert, am 27. Webasto benachrichtigt. Sofort ermittelt das Münchener Gesundheitsamt die Kontakte der Mitarbeiterin und identifiziert insgesamt 16 Infektionen.

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Patient Eins steckt sich in der Besprechung an, als er neben Patientin Null sitzt. Die beiden gegenübersitzenden Kollegen bleiben verschont. Ein anderer Mitarbeiter infiziert sich, als er in der Kantine das Salz vom Tisch holt, an dem Patientin Null sitzt.

Das Forschungsteam um Merle Böhmer vom bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Udo Buchholz vom Robert-Koch-Institut (RKI) und Victor Corman von der Charité schlussfolgert, dass die Ansteckungsgefahr noch vor Symptombeginn oder kurz danach „erheblich“ sei. In mindestens einem, womöglich sogar fünf Fällen der Münchener Fallgruppe habe eine infizierte Person Sars-CoV-2 weitergegeben, bevor Symptome auftraten. In mindestens vier Fällen bemerkten die Infizierten gerade erste Symptome an sich, als sie auch schon andere ansteckten.

„Die hohe Viruslast im Rachen gleich zu Beginn der Symptome deutet darauf hin, dass Erkrankte bereits sehr früh infektiös sind, möglicherweise sogar bevor sie überhaupt bemerken, dass sie krank sind“, sagt der an der Studie beteiligte Direktor des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr, Roman Wölfel.

Inzwischen ist klar: Etwa ein bis zwei Tage bevor erste Erkrankungssymptome auftauchen, sind Infizierte bereits infektiös und bleiben es in den ersten Tagen mit Symptomen. Später schwerer Erkrankte scheinen infektiöser zu sein als Infizierte, die nur leicht erkranken. Ob aber Infizierte, die gar keine Symptome entwickeln, also „asymptomatisch“ bleiben, die Viren weitergeben können, ist umstritten – auch weil in Studien oft nicht kontrolliert wird, ob jemand asymptomatisch bleibt oder doch noch Symptome entwickelt. Das RKI misst den Übertragungen von asymptomatisch Infizierten eine „untergeordnete Rolle“ bei.

MÄRZ: Die unsichtbare Gefahr

Am 9. März treffen sich die Mitglieder der Berliner Domkantorei zur wöchentlichen Probe. Auf gut 120 Quadratmetern ist viel Platz, zwischen den Teilnehmern gibt es Abstand. Doch am Ende sind 60 der 80 Sänger mit Sars-CoV-2 infiziert.

Es sind solche Situationen, die Virologinnen und Epidemiologen aufhorchen lassen und schließlich davon überzeugen, dass das Virus nicht allein durch Tröpfchen- und Schmierinfektionen übertragen wird, sondern auch durch Aerosole. Bei lautem Sprechen oder Singen haben die Aerosole – in schlecht gelüfteten Räumen – leichtes Spiel. So werden Familienfeiern und Sportveranstaltungen zu Superspreading-Events, bei denen ein Infizierter viele weitere Menschen ansteckt.

Im März mehren sich die Hinweise: der Infizierte, der in der Kantine mit dem Rücken zum Erkrankten saß, die Familie aus Wuhan, die sich in einem Restaurant über viele Meter hinweg ansteckte. Im Frühsommer liefern Laborexperimente Ergebnisse: Nicht nur kleine, gerade noch sichtbare Tröpfchen, sondern auch die sehr viel kleineren Aerosol-Partikel können die Viren übertragen.

Eine elektronenmikroskopische (kolorierte) Aufnahme zeigt das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2, das aus im Labor kultivierten…Foto: dpa

Die Tröpfchen haben einen Durchmesser zwischen fünf und 500 Tausendstel Millimeter, Aerosole sind zwischen 0,01 Tausendstel und fünf Tausendstel Millimeter klein. Sie haben so geringes Gewicht, dass sie ohne Luftbewegung mehrere Stunden schweben können. Aerosole können ansteckend sein, wenn die Person, von der sie stammen, schon gar nicht mehr im Raum ist. Gefährlich macht die Aerosole, dass sie beim Einatmen tief in die Lunge, sogar direkt bis in die Lungenbläschen gelangen können. Dort findet das Coronavirus massenhaft Andockstellen, um eine Infektion in Gang zu setzen.

Im Sommer spielt der Übertragungsweg über Aerosole eine geringere Rolle. Die Menschen halten sich häufiger draußen auf, wo der Wind sie rasch hinfort trägt und Wärme und Sonne den Viren zusetzen. Erst in der kalten Jahreszeit gewinnen die Aerosole als Überträger wieder an Bedeutung. Einen gewissen Schutz gegen die unsichtbaren Viruswolken bieten FFP-2-Masken. Und natürlich: Lüften!

APRIL: Die Suche nach Medikamenten

Remdesivir ist das erste Mittel, das in den USA (am 1. Mai) vorläufig und in Europa (am 3. Juli) bedingt für die Behandlung von Covid-19, der durch Sars-CoV-2 ausgelösten Erkrankung, zugelassen wird. Dabei ist sein Nutzen für die Patientinnen und Patienten nicht erwiesen. Die bislang größte Studie zeigt sogar, dass es keinen Nutzen hat.

Ursprünglich wurde das Medikament vom Pharmaunternehmen Gilead gegen das Ebolavirus entwickelt. Es soll aber auch gegen weitere Viren wie das Marburg-Virus sowie Mers- und Sars-Viren wirken, die nahe mit Sars-CoV-2 verwandt sind.

Der Wirkstoff ähnelt Adenosin-Nukleotiden, einer Sorte der Bausteine, aus denen in befallenen Zellen das Erbgut neuer Viren zusammengesetzt wird.

Interaktive Karte

Wird ein Wirkstoff-Molekül verbaut, blockiert oder verlangsamt es das Enzym, das die neuen Stränge von Virus-Erbgut zusammenfügt, im Tierversuch auch die von Sars-CoV-2.

Im Januar berichtet die Medizinzeitschrift „New England Journal of Medicine“ (NEJM) von der Behandlung des ersten bestätigten Falls in den USA. Bei dem 35-jährigen Mann entwickelt sich eine Lungenentzündung. Bereits einen Tag nach Beginn der Behandlung mit Remdesivir bessert sich sein Zustand.

Ende April berichtete der Berater der US-Regierung, Anthony Fauci, von positiven Zwischenergebnissen einer klinischen Studie. Remdesivir verkürze die Zeit bis zur Genesung von 15 auf etwa zehn Tage. Der Effekt sei „deutlich und statistisch bedeutsam“, berichtet Fauci dem US-Präsidenten.

Doch eine zeitgleich im Fachblatt „Lancet“ erschienene Studie bestätigt diese Ergebnisse nicht. Remdesivir habe keine klinisch bedeutsame positive Wirkung, berichtet ein chinesisches Forschungsteam. Auch die Menge der nach fünf Tagen Behandlung bei den Patienten nachgewiesenen Viren gleiche weitgehend der bei Patienten, die ein wirkungsloses Placebo erhalten hatten. Zwei weitere, von Gilead mitfinanzierte Studien liefern gemischte Ergebnisse.

Die Zulassungen des Medikaments, für das Gilead rund 2000 Euro pro behandeltem Patienten veranschlagt, erfolgen dennoch.

Klarheit soll eine Studie der WHO bringen. Mit über 400 beteiligten Krankenhäusern in 30 Ländern ist die Solidarity-Studie deutlich größer angelegt als alle vorherigen. Sie zeigt, dass Remdesivir ebenso wenig wirkt wie drei weitere Mittel: das Malariamedikament Hydroxychloroquin, das HIV-Medikament Lopinavir und ein antiviral wirkendes Hormon aus der Gruppe der Interferone. Die Sterblichkeit, die Notwendigkeit künstlicher Beatmungen und die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus bleiben mit oder ohne Medikamentengabe gleich. Gilead bezweifelt die Aussagekraft der Studie.

Die WHO sucht derweil weiter nach Wirkstoffen, bislang ist kein Mittel gegen Sars-CoV-2 gefunden. Doch es gebe neuere antivirale Wirkstoffe, Medikamente, die das Immunsystem beeinflussen, und künstlich hergestellte Antikörper, die bewertet werden sollen.

Einziger Lichtblick bislang ist der Entzündungshemmer Dexamethason. Der preisgünstige und weltweit verfügbare Wirkstoff vermindert die Sterblichkeit unter beatmeten Covid-19-Patienten und bei Patienten, denen Sauerstoff verabreicht wird.