/Kommunalwahl in der Türkei: Misstrauensvotum gegen Erdogan

Kommunalwahl in der Türkei: Misstrauensvotum gegen Erdogan


Er versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Am Ende eines langen, aufreibenden Wahlkampfs tritt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am frühen Montagmorgen in Ankara vor seine Anhänger. Bis zuletzt hat Erdogan versucht, die Stimmung vor der Kommunalwahl zu drehen, hat bis zu acht Kundgebungen an einem Tag abgehalten.

Nun weiß er: Es hat in vielen Städten nicht gereicht. Die Metropolen Izmir und Antalya und auch die Hauptstadt Ankara gehen aller Voraussicht nach an die Opposition. Das Rennen in Istanbul ist zu diesem Zeitpunkt noch völlig offen.

Erdogan gibt sich selbstbewusst. „Wir lagen vorne, so, wie wir immer vorne liegen“, sagte er bereits Stunden zuvor gegenüber Journalisten in Istanbul. Sein Gesicht spricht jedoch eine andere Sprache: Ringe haben sich unter die Augen gegraben, die Wangen sind eingefallen.


Erdogan bei seiner Rede am Sonntagabend in Ankara


Ali Unal/ AP

Erdogan bei seiner Rede am Sonntagabend in Ankara

Formal stimmten die Menschen in der Türkei am 31. März nur über Bürgermeister und Stadtparlamente ab. Erdogan selbst jedoch hat die Wahl zu einem Referendum über seine Regierung erklärt. Er sprach von einer „Überlebensfrage“. Das Ergebnis kann er nur als Misstrauensvotum empfinden.

In Ankara haben seit den Neunzigerjahren Islamisten regiert. Nun muss sich Erdogan wohl damit abfinden, dass in der türkischen Hauptstadt Ankara mit Mansur Yavas künftig ein Politiker der Republikanischen Volkspartei (CHP) das Sagen hat. Yavas war Militärstaatsanwalt, er gilt als nationalistisch-konservativ. Er dürfte Erdogan das Leben in den kommenden Jahren sehr viel schwerer machen.


Oppositionspolitiker Mansur Yavas in Ankara


Burhan Ozbilici/ DPA

Oppositionspolitiker Mansur Yavas in Ankara

Das eigentliche Drama in dieser Nacht spielt sich jedoch in Istanbul ab. Die regierungstreuen, türkischen Medien vermelden für Binali Yildirim, den früheren Premier und Spitzenkandidaten der Regierungspartei AKP, früh einen deutlichen Vorsprung, der jedoch im Laufe des Abends auf weniger als 5000 Stimmen schrumpft. Um kurz vor Mitternacht erklärt sich Yildirim zum Sieger, obwohl etliche Stimmen noch nicht ausgezählt sind. Ekrem Imamoglu, der CHP-Kandidat, widerspricht umgehend.

Istanbul stellt mit 15 Millionen Einwohnern etwa ein Fünftel der türkischen Bevölkerung. Mehr als zehn Millionen Menschen waren bei der Kommunalwahl wahlberechtigt. Dass am Ende wenige Tausend Stimmen über Sieg und Niederlage entscheiden, verdeutlicht einmal mehr, wie gespalten die Türkei nach fast 17 Jahren AKP-Herrschaft ist.

Videoanalyse: „Erdogan ist bereit, das Land in Brand zu setzen“

Erdogan führte einen Wahlkampf, der in Feindseligkeit und Aggressivität sämtliche frühere Wahlkämpfe übertraf: Er diffamierte seine Gegner als Terrorhelfer und drohte damit, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen. Seine Angst vor einer Niederlage war so groß, dass er nicht davor zurückschreckte, das Attentat auf zwei Moscheen in Neuseeland für seine Kampagne zu instrumentalisieren.

Trotz finanzieller, logistischer, medialer Überlegenheit, trotz massiver Schikanen gegen die Opposition hat Erdogan es nicht geschafft, die Großstädte eindeutig für sich zu sichern. Das zeigt, wie tief der Frust der Menschen über die Regierung sitzt.

Erdogan ist einst an die Macht gekommen, weil er den Wählern so glaubhaft wie kein anderer Politiker eine bessere Zukunft versprochen hat. Nun aber geht das Land durch die schwerste Wirtschaftskrise seit 2001.

Das türkische Bruttoinlandsprodukt ist im vierten Quartal 2018 um fast 3 Prozent geschrumpft. Zwar hat sich die Lira nach dem Absturz vom Sommer ein wenig erholt, aber die Inflation ist mit 20 Prozent nach wie vor unvermindert hoch. Die Lebensmittelpreise sind explodiert, worunter vor allem Bürger mit niedrigem Einkommen leiden.

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Erdogan gibt fremden Mächten die Schuld für die Misere. „Sie haben begonnen, ein Spiel mit der Türkei zu spielen“, sagte er. Das Ergebnis vom Sonntag demonstriert, dass immer weniger Türken bereit sind, den Verschwörungstheorien zu folgen.

Der Wahlausgang wird das Land wohl nicht befrieden. In Istanbul beanspruchen sowohl Regierung wie auch Opposition den Sieg für sich. Die Wahlkommission hat sich über Stunden geweigert, die Zahlen zu aktualisieren. Es ist schwer vorzustellen, dass eine der beiden Seiten schnell nachgibt.

„Niemand wird in den kommenden 48 Stunden schlafen“, sagt CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu. Istanbul und der Türkei stehen aufreibende Tage und Wochen bevor.