Wenig Zeit? Am Textende gibt’s eine Zusammenfassung.
Ist das die finale Demütigung des gestürzten Präsidenten? Oder einfach nur der notwendige Bildbeleg dafür, dass die Dinge wirklich so sind, wie das Regime in Algier behauptet? In jedem Fall lassen die Aufnahmen, die das Staatsfernsehen am späten Dienstagabend ausstrahlt, kaum einen Algerier kalt.
Zu sehen ist der greise Präsident Abdelaziz Bouteflika, der Tayeb Belaiz, dem Chef des Verfassungsrats, sein Rücktrittsschreiben übergibt. Bouteflika sitzt im Rollstuhl und trägt einen traditionellen Mantel. Sprechen kann er offenbar nicht mehr. Belaiz und Abdelkader Bensalah, Chef des Oberhauses im algerischen Parlament, wirken peinlich berührt von der Szene.
Mit diesem Schauspiel endet eine 20-jährige Ära in Algerien: Im April 1999 wurde Bouteflika zum Staatspräsidenten gewählt, im April 2019 tritt er zurück. Es ist ein erzwungener Rückzug: Seitdem Bouteflika im Februar seine Kandidatur für eine fünfte Amtszeit bei der für April geplanten Präsidentenwahl verkündet hatte, gingen Freitag für Freitag landesweit Algerier auf die Straßen. Erst ein paar Zehntausend, dann Hunderttausende, am vergangenen Freitag wohl mehr als eine Million.
Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah hat kühl kalkuliert
So ist es den Algeriern gelungen, mit friedlichen Mitteln und ohne Blutvergießen den offensichtlich amtsunfähigen Präsidenten zu stürzen. Das ist in der arabischen Welt eine heroische Leistung – beruht doch die Macht der Staatschefs normalerweise noch immer auf der Stärke ihrer Sicherheitsapparate. Das höchste Staatsamt wird entweder vererbt oder in unfreien Wahlen vergeben.
Aber der Rücktritt des Präsidenten bedeutet noch lange nicht den Sturz des Regimes. Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah hat in den vergangenen Wochen kühl kalkuliert, dass Bouteflikas politisches Überleben nicht den Einsatz tödlicher Gewalt gegen die Demonstranten wert ist. Als der Armeechef in der vergangenen Woche öffentlich forderte, Bouteflika für amtsunfähig zu erkennen, war das Schicksal des Präsidenten besiegelt.
Bis zum Rücktritt des Staatschefs waren die Interessen der Demonstranten und des Militärs nahezu deckungsgleich. Doch darüber, wie das Land zukünftig regiert werden soll, dürften die Meinungen schon bald weit auseinander gehen.
Das Militär will einen Teil der Elite opfern
Die Protestbewegung hat deutlich gemacht, dass Bouteflikas Rücktritt nur der erste Schritt auf dem Weg zu einem durchgreifenden politischen Wandel und mehr Demokratie sein kann. Die Demonstranten fordern den Sturz von „le pouvoir“, jenem ominösen Machtzirkel in Algier, der aus Militär, Geheimdienst, Staatspartei FLN und Geschäftsleuten aus dem Umfeld der Bouteflikas besteht.
Die Armeeführung ist derzeit offenbar gewillt, einen Teil dieser Elite zu opfern, um die Protestierenden zu besänftigen und die eigene Position zu stärken. In den vergangenen Tagen haben die Sicherheitskräfte mehrere Geschäftsmänner festgesetzt, die zum engsten Zirkel der Präsidentenfamilie zählte. Der prominenteste unter ihnen ist Ali Haddad, einer der reichsten Männer des Landes. Der Tycoon wurde am Wochenende an der tunesischen Grenze gestoppt, im Gepäck eine große Summe Bargeld. Um Fluchtversuche weiterer Millionäre zu verhindern, hat das Militär bis Ende April ein Flugverbot für Privatmaschinen verhängt.
Die Armee versucht sich nun als Macht zu inszenieren, die Seite an Seite mit dem Volk gegen gierige Geschäftsleute vorgeht, die den nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte befindlichen Bouteflika manipuliert und dadurch das Land ausgeplündert hatten.
Die arabischen Nachbarn wollen keinen Wandel in Algier
Das ist aber bestenfalls die halbe Wahrheit. Bis zum Beginn der Proteste hatte Generalstabschef Gaïd Salah kein Problem mit einer fünften Amtszeit des Präsidenten. Erst auf Druck der Straße schwenkte das Militär um. Das bedeutet noch lange nicht, dass die Armee nun gewillt ist, ihre politische Rolle zu reduzieren.
Fast genauso wichtig: Auch keiner der anderen arabischen Staaten hat derzeit Interesse an einem radikalen Wandel in Algerien. In Kairo, Riad und anderen Hauptstädten ist die Sorge groß, dass ein erfolgreicher Volksaufstand in Algier auch im eigenen Land unzufriedene Bürger zu Protesten animieren könnte.
Zusammengefasst: Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika ist nach 20 Jahren im Amt zurückgetreten. Damit haben die mehr als eine Million Algerier, die in den vergangenen Wochen gegen den Staatschef demonstrierten, ein erstes Ziel erreicht. Ein grundlegender Wandel des Systems hin zu mehr Demokratie droht jedoch am mächtigen Militär zu scheitern. Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah versucht das Volk zu besänftigen, indem er Geschäftsleute aus dem Umfeld des gestürzten Präsidenten zu Sündenböcken für die Krise des Landes erklärt.