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Britische Wirtschaft in Angst: Der „BoJo“-Effekt

Samstag, 03.08.2019  
10:11 Uhr


Die Schreckensbotschaft verkündete „Metro“ den britischen Touristen am Dienstag. „Sie kriegen 20 Pints Bier weniger in diesem Sommerurlaub wegen des fallenden Pfundes“, titelte die Londoner Gratiszeitung. Und rechnete den Lesern vor, wie viel mehr Drinks, McDonald’s-Besuche und Taxifahrten sie sich 2016 in welchem EU-Land hätten leisten können. Damals, als sie für ihr Pfund noch 1,30 Euro bekamen.

Diesen Freitag waren es nur noch 1,09 Euro: dank „BoJo“. Seit Boris Johnson britischer Premierminister geworden ist, hat die Landeswährung an Wert verloren; diese Woche näherte sie sich dem tiefsten Stand gegenüber dem Euro seit fast zehn Jahren. Denn seit Johnsons Amtsübernahme deutet immer mehr auf einen Brexit am 31. Oktober ohne Abkommen mit der EU hin: seine Antrittsrede, in der „BoJo“ zweimal von einem „No Deal“ sprach. Seine Auswahl der neuen Minister, die zum Teil einen „No Deal“-Brexit propagieren. Und seine Entscheidung, das Budget für einen ungeregelten Ausstieg zu verdoppeln, von 2,1 auf 4,2 Milliarden Pfund.

Genau dieser harte Brexit war seit dem Referendum das Horrorszenario weiter Teile der Wirtschaft. Jetzt rückt er ganz nah.


Premierminister Johnson beim Besuch der Royal Navy: "tiefgreifende Unsicherheiten"


Jeff J Mitchell /Getty Images

Premierminister Johnson beim Besuch der Royal Navy: „tiefgreifende Unsicherheiten“

Von „tiefgreifenden Unsicherheiten“ spricht Notenbankchef Mark Carney. Seine Bank of England hat die Wachstumsprognosen für das Königreich gerade gekappt und davor gewarnt, dass Lebensmittel und Treibstoff deutlich teurer werden könnten.

Auch deutsche Topökonomen sehen einen harten Brexit mit Sorge: Der Chef des Münchner Ifo-Instituts Clemens Fuest spricht von einem „vorübergehenden Chaos“. Und der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Gabriel Felbermayr, erwartet, dass die Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals durch einen ungeregelten Austritt in der Halloween-Nacht schwer getroffen würde.

Das dicke Ende könnte noch kommen

Bislang sind den britischen Unternehmen die großen Brexit-Verwerfungen erspart geblieben. So steht der Leitindex der Londoner Börse etwa 15 Prozent höher als nach dem Austritts-Referendum im Juni 2016. Und die Arbeitslosigkeit war im Frühjahr so niedrig wie seit den Siebzigerjahren nicht mehr.

Doch es werden auch Bremsspuren sichtbar. So liegt das Wirtschaftswachstum seit dem Referendum stets unterhalb des EU-Durchschnitts. „Die britische Wirtschaft hat sich abgeschwächt, aber keinen großen Einbruch erlebt“, sagt Ifo-Chef Fuest. Dies liege daran, dass de facto noch nicht viel passiert sei. Und: „Die Wirtschaft ist bislang immer von einem Soft-Brexit ausgegangen.“

Das ändert sich nun. Schon im parteiinternen Wahlkampf um die Nachfolge von Theresa May hat Johnson versprochen, den Brexit pünktlich zu Halloween umsetzen: „Do or die, come what may.“ Notfalls ohne Einigung mit Brüssel. „Unter May war die Hoffnung weitverbreitet, dass es keinen harten Brexit gibt – und wenn doch, werden alle Verantwortlichen konstruktiv arbeiten, um den harten Brexit so gut wie möglich abzufedern“, sagt IfW-Chef Felbermayr. „Bei Johnson deutet vieles auf einen harten Konfrontationskurs hin.“

Solche Ängste schlagen nun augenscheinlich auf die Realwirtschaft durch. Die Bank of England erwartet für 2019 und 2020 nur noch 1,3 Prozent Wachstum statt bisher 1,5 bzw. 1,6 Prozent. Wie aktuelle Daten nahelegen, könnte es womöglich noch viel schlimmer kommen. So schrumpfte die britische Industrieproduktion im Juli so stark wie seit 2012 nicht mehr.

Besonders tief getroffen hat es die Automobilbranche. Die Herstellung von Autos sinkt nach Angaben des Branchenverbandes SMMT seit nunmehr 13 Monaten in Folge – und ist im bisherigen Jahresverlauf rund ein Fünftel niedriger als 2018. Fast noch schlimmer: Die Branche hat Investitionen in der ersten Jahreshälfte um fast drei Viertel gegenüber dem Vorjahreszeitraum gekürzt, laut SMMT vor allem wegen des möglichen harten Brexits. Im Gegenzug geben die Betriebe Hunderte Millionen Pfund aus, um sich für das Worst-Case-Szenario zu wappnen.

Acht von zehn im Königreich produzierten Fahrzeugen werden exportiert; mehr als die Hälfte davon gehen in EU-Staaten. Im Falle eines harten Brexits würden sie gemäß WTO-Tarif mit etwa zehn Prozent Zoll belegt. Die Konzerne PSA und Ford drohen vor diesem Hintergrund mehr oder weniger offen damit, Produktionsstandorte in Großbritannien zu schließen. Der britische Hersteller Jaguar, der eindringlich vor dem Brexit gewarnt hat, baut in großem Umfang Stellen ab. Der japanische Honda-Konzern hat bereits entschieden, eine Fabrik im englischen Swindon schließen zu lassen, und Nissan will die nächste Generation eines SUV-Modells nicht mehr in Großbritannien bauen lassen, sondern in Japan.

„Johnson verspricht einen harten Brexit, der nicht wehtut – aber das nehmen ihm die meisten Menschen nicht ab“, sagt IfW-Chef Felbermayr dem SPIEGEL. Tatsächlich wären die Verwerfungen im Fall eines „No Deal“ erheblich. In internen Regierungspapieren, aus denen die Zeitung „The Guardian“ zitiert, heißt es, ein harter Brexit im Herbst könne schlimmere Folgen für das Land haben als zum ursprünglich geplanten Austrittstermin am 29. März. Unter anderem warnen die Autoren vor Panikkäufen von Bürgern und Störungen von Medikamentenlieferungen aus dem EU-Ausland.

„Kein Exempel statuieren“

Ein solches Chaos würde auch die deutsche Wirtschaft treffen. Aus keinem Staat importieren die Briten so viel wie aus Deutschland. Bei einem ungeregelten Brexit könnten Zölle diese Einfuhren massiv verteuern. „Ein No-Deal-Szenario wäre die schlechteste Option für die deutsche Wirtschaft“, zitierte die Nachrichtenagentur dpa jüngst Eric Schweitzer, den Chef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages.

Die deutschen Spitzenökonomen fordern von der EU, einen Last-minute-Kompromiss mit London auszutarieren. „Ich habe es immer für dumm gehalten, Exempel zu statuieren“, sagt Ifo-Chef Fuest. Beide Seiten seien als Handelspartner wichtig füreinander und könnten kein Interesse an jahrelang vergifteten Beziehungen haben. Felbermayr erklärt: „Wir haben mindestens ein Jahr verloren mit Fingerzeigen auf die Briten, die es nicht hinkriegen.“ Wenn es mit Brüssel nicht klappe, werde Johnson schnell ein Freihandelsabkommen mit US-Präsident Donald Trump schließen. Und dieser Deal werde Europa schaden.

Den beiden Ökonomen schwebt eine Art modifizierte Zollunion zwischen der EU und Vereinigten Königreich vor. Dieses Konstrukt würde Zölle an der neuen EU-Außengrenze verhindern. Kein Vorschlag hat bei den verschiedenen Brexit-Abstimmungen im Londoner Unterhaus mehr Ja-Stimmen bekommen als dieser. Eine Mehrheit gab es allerdings selbst für ihn nicht. Denn auch die Zollunion würde die britische Souveränität einschränken. So würde ein Freihandelsabkommen, das Brüssel mit Drittstaaten abschließt, genauso für Großbritannien und Nordirland gelten. Fuest und Felbermayr schlagen daher vor, dass die EU-Kommission ihren Londoner Partnern in diesem Fall erweitertes Mitbestimmungsrecht in der Handelspolitik einräumt.

Bisher ist so eine Zollunion nur die Wunschvorstellung von Ökonomen. Ob Entscheider dies- oder jenseits des Ärmelkanals sie ernsthaft erwägen? Fraglich.

Klar ist: Die Uhr für konstruktive Lösungen läuft ab. Bis Halloween sind es keine drei Monate mehr. Und nicht nur die britischen Bürger weilen gerade in den Sommerferien, sondern auch viele Spitzenpolitiker.

Anmerkung der Redaktion: In der Grafik „Top-Exporte des Vereinigten Königreichs in die EU, 2018“ fehlten zunächst Kommastellen bei den Zahlen. Wir haben den Fehler korrigiert.