/Protestbewegung in Hongkong: „Die Jugend will Peking provozieren“

Protestbewegung in Hongkong: „Die Jugend will Peking provozieren“

Samstag, 03.08.2019  
13:09 Uhr

SPIEGEL ONLINE: Monsieur Cabestan, Sie haben Jahrzehnte in Hongkong gelebt und unterrichten noch heute an einer Hongkonger Universität. Überraschen Sie die Ausdauer und das Ausmaß der dortigen Protestbewegung?

Jean-Pierre Cabestan: Ja und nein. Ja, weil sich die Bewegung zunächst nur gegen das neue Ausweisungsgesetz richtete und gegen nichts anderes. Nein, weil die Probleme, die vor Jahren schon die gescheiterte Regenschirm-Bewegung bemängelte, ungelöst geblieben sind, und viele Hongkonger ihren Kampf für mehr Demokratie weiterführen wollen. Zudem haben sich die viel älteren wirtschaftlichen und sozialen Probleme in letzter Zeit zugespitzt – in Hongkong gibt es immer weniger gut bezahlte Arbeit, Wohnungsnot und große soziale Ungleichheit.

Zur Person

  • Virendra Singh Gosain/ Hindustan Times/ Getty Images

    Der Sinologe Jean-Pierre Cabestan, Jahrgang 1955, leitete von 1998 bis 2003 das französische China-Zentrum in Hongkong und lehrt seit 2007 an der Hongkong Baptist University. Seine Werke, zuletzt „China Tomorrow: Demoracy or Dictatorship?“, Lanham 2019, werden regelmäßig ins Englische übersetzt.

SPIEGEL ONLINE: Viele junge Hongkonger Demonstranten tragen selbst gebastelte Kartonplakate mit Aufschriften wie „Freiheit“ oder „Revolution“. Wie ernst ist es ihnen damit?

Cabestan: Sehr ernst. Die jungen Hongkonger sind in ihrer sehr großen Mehrheit Anhänger demokratischer Werte. Also etwa: ein Bürger, eine Stimme! Sie fordern Respekt vor der Meinungsfreiheit. Das schließt die Freiheit ein, die Unabhängigkeit Hongkongs zu befürworten.

SPIEGEL ONLINE: Womit die Bewegung fast alle Chinesen gegen sich hätte.

Cabestan: Nur eine Minderheit will die Unabhängigkeit Hongkongs. Aber alle befürworten die politische und kulturelle Identität Hongkongs: Rechtsstaat, liberale politische Werte und den Gebrauch der kantonesischen Sprache.

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Hongkong:
Polizei feuert Tränengas auf Demonstranten

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem scheint sich die Bewegung täglich zu radikalisieren. Haben Sie dafür noch Verständnis?

Cabestan: Das Problem liegt darin, dass eine nicht unbedeutende Zahl junger Hongkonger den Druck, der durch friedliche Proteste und Demonstrationen aufgebaut werden kann, für nicht mehr ausreichend hält. Das Schlüsselereignis ist für sie der 12. Juni dieses Jahres, als es in Hongkong erstmals zu Straßenschlachten mit der Polizei kam. Aus ihrer Sicht zeigte sich da, dass nur Gewalt die Regierung zum Zurückweichen zwingt. Und das gilt für diese Leute bis heute.

SPIEGEL ONLINE: Zu Recht?

Cabestan: Die Hongkonger Jugend will Peking provozieren und zum Nachgeben zwingen. Die beste Strategie ist das sicher nicht. Tatsächlich haben sich die Positionen Pekings mit dem Aufkommen der Unabhängigkeitsforderung versteift.

SPIEGEL ONLINE: Die Reaktionen in Peking erscheinen widersprüchlich: Die Regierung übt Mäßigung, während die Parteimedien zum Feldzug aufrufen. Woran muss man sich halten?

Cabestan: Es ist wahrscheinlich, dass die Pekinger Behörden in dieser Frage gespalten sind. Wie viel Demokratie man Hongkong gestatten will, ist in der Zentralregierung seit Langem umstritten. Doch niemand in Peking will die politische Kontrolle über Hongkong verlieren. Die parteiinterne Presse lässt sogar eine noch sehr viel härtere Linie hervortreten. Was nicht bedeutet, dass Peking plant, das Militär zur Wiederherstellung der Ordnung zu entsenden. Nach meiner Meinung wird sich Parteichef Xi Jinping weiter auf die Hongkonger Polizei und die Hongkonger Regierung stützen.

SPIEGEL ONLINE: Ist denn eine Lösung des Konflikts in Sicht?

Cabestan: Die Pekinger Regierung hat sich bisher nicht gegen einen Dialog mit der Straße gestellt. Sie kann durch die Hongkonger Regierung das umstrittene Ausweisungsgesetz zurückziehen. Sie kann auch eine unabhängige Untersuchung des Verhaltens der Hongkonger Polizei anordnen, wie sie die Demonstranten fordern. Aber viel weiter wird sie nicht gehen, und eine Lösung ist das alles nicht.

SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?

Cabestan: Die echte Lösung liegt darin, dass die Zentralregierung das strukturelle politische Problem Hongkongs anerkennt und darüber einen Dialog mit den repräsentativen Kräften der Hongkonger Zivilgesellschaft eröffnet. Aber unter Xi Jinping scheint mir diese Möglichkeit wenig wahrscheinlich.

Im Video: Polizei greift bei Demonstration in Hongkong hart durch

RITCHIE B TONGO/EPA-EFE/REX

SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie die Gefahr einer blutigen Niederschlagung der Protestbewegung wie vor 30 Jahren auf dem Tiananmen-Platz?

Cabestan: Parolen und Politik von Xi sind hier eins: kein Blutvergießen, keine Konzessionen! Aber das ist ein schmaler Grat für die Zentralregierung. Sie hat die Lehre vom Tiananmen gezogen, dass sie einen Einsatz der Armee mit allen Mitteln verhindern will, daher der zunehmend orwellsche Charakter der chinesischen Gesellschaft. Doch Hongkong bleibt eine offene, kosmopolitische Gesellschaft. Gegen sie wird man sicher nicht mehr die brutale Gewalt der Kalaschnikows anwenden. Umso öfter sieht man aber jetzt die bewaffnete Hongkonger Polizei, die übrigens von der Volksarmee abhängt, mit Tränengas, Wasserwerfern und Bulldozern im Einsatz.

SPIEGEL ONLINE: Wie sollte Europa auf die Lage reagieren?

Cabestan: Die europäische Jugend sollte frei nach Kennedy rufen: „Wir sind alle Hongkonger!“ Was in Hongkong passiert, ist entscheidend für unsere Verteidigung der Demokratie.